An der politischen Massenkarambolage um die Wahl von Bundesverfassungsrichterinnen, die wie in Zeitlupe über Wochen ablief und auch am Freitag noch kein Ende fand, wird so einiges für kommentierungswürdig gehalten: Was der Vorgang den Institutionen der Demokratie angetan haben könnte; was das über die »Führungsqualitäten« des Maskenhandelsvertreters Spahn oder jene von Halbiere-die-AfD-Merz aussagt; ob bei der SPD »Selbstüberschätzung« vorlag oder bei der CDU »Fingerspitzengefühl« fehlte und so fortan. In der Nebenrolle trat ein »Plagiatsjäger« auf, den überhaupt noch zu beachten sich moralisch seit spätestens Februar 2024 verbietet. Dass dessen Selbstdarstellungsdrang vor allem dann den medial-politischen Resonanzboden aus Empörung und Urteil zum Tanzen bringt, wenn sich die »Vorwürfe« gegen Frauen richten, ist ein eigenes Thema.
I.
Stefan Reinecke hat auf drei Aspekte hingewiesen, die hinter den offensichtlichen Blechschaden führen. Erstens: »Das schwarz-rote Debakel hat keinen Autor, keinen Regisseur, keine Strategie, nur stammelnde Unfähigkeit.« Zweitens: »Rechte Medien, die AfD und Teile der Union haben eine Kampagne gegen die linksliberale Juristin Frauke Brosius-Gersdorf inszeniert.« Drittens: »Das eigentlich Gefährliche ist die Mixtur von einem aggressivem Rechtspopulismus und einer führungslosen und überfordert wirkenden Union.«
Was auf den ersten Blick nicht zusammenzupassen scheint – »keine Strategie« und »eine Kampagne« –, wird durch einen recht unschuldigen Begriff wieder zusammengeführt: »Mixtur«. Was die einen tun und die anderen unterlassen, kann dem Plan eines Dritten zugute kommen, ohne dass dafür ein koordiniertes Vorgehen verantwortlich wäre. Es passiert als Summe von unzähligen individuellen Überlegungen, von denen sich manche auf die Zukunft beziehen können. Aber die handelnden Protagonisten haben deshalb nicht automatisch schon von jenem Ende her gedacht, das sich die passiven Profiteure zurechtgelegt haben.
Während die politischen Folgen des »Fiaskos«, »Destasters«, »Eklats« begutachtet werden, geht die Berichterstattung über die AfD und ihre Strategie weiter. Die hatte vergangenes Wochenende Fraktionsklausur, von der überwiegend »Benimmregeln« Schlagzeilen machten. Inzwischen rückt ein Papier ins Zentrum des Interesses, das man mit früheren Politikplänen der Rechtsradikalen zusammenlesen kann. Man kommt dann unmittelbar bei den Vorgängen um die Wahl von Bundesverfassungsrichterinnen wieder heraus.
Was will die AfD? Auf der Ebene des politischen Wettbewerbs: die Union zerstören und die Brandmauer einreißen. Auch das scheint auf den ersten Blick nicht zusammenzupassen, weil die CDU dabei sowohl ein potentieller Koalitionspartner als auch eine potentielle Beute wäre. Aber genau das ist es, worauf die AfD hinarbeitet. Immer wieder wurde in den vergangenen Monaten über entsprechende interne Papiere berichtet. Die Rechtsradikalen wollten, hieß es hier, »die CDU spalten, so tief, dass sie irgendwann allen Anhängern fremd ist. Den einen soll sie zu links scheinen, den anderen zu rechts.« Sie wollten durch das Herausstellen gemeinsamer Positionen »ihre Gegner unter Druck setzen«, hieß es hier. »Die AfD wolle zwischen den liberalen, progressiven Teil der CDU und den konservativen einen Keil treiben«, hieß es hier. In der CDU ist das hier und da auch entsprechend verstanden worden: »Das Ziel der AfD ist auch die Zerstörung der CDU.«
In dem jüngsten der bekannt gewordenen Strategiepapiere geht es um das »Ende der Brandmauer« und den »Weg in die Regierungsverantwortung«. Neben der Festigung und Ausweitung der eigenen Verankerung sei es dazu erforderlich, »andere lagerübergreifende Koalitionen nicht mehr möglich« zu machen, indem »der Graben zwischen Union und den linken Parteien« so vertieft wird, dass er auch im Sinne von Anti-AfD-Bündnissen »nicht mehr überbrückt werden kann«. Dorthin komme man, indem man das »Konfliktpotential zwischen der CDU/CSU und der SPD, insbesondere zwischen dem konservativen, marktwirtschaftlichen Flügel der Union und den SPD-Linken« verstärke. Und: Indem man die Zentrallinie der Polarisierung so verändere, dass sie »nicht mehr zwischen der AfD und den anderen politischen Strömungen verläuft, sondern sich ein bürgerlich-konservatives Lager und ein sich radikalisierendes linkes Lager gegenüberstehen, vergleichbar mit der Situation in den USA«.
Der Spaltkeil wird also doppelt angesetzt: innerhalb der Union (»Die AfD kann mit Wechselwählern von der CDU/CSU stärkste Partei werden«) und zwischen Union und den links von ihr stehenden Parteien (»Trennung des bürgerlich-konservativen Lagers vom linken Lager vorantreiben«). Bei letzterem kommt der Linkspartei aus Sicht der AfD eine besondere Rolle zu: Insofern sie »zur treibenden Kraft im linken Lager geworden« sei, werde es Grünen und SPD »erschwert, sich auf Kompromisse mit der CDU/CSU z.B. bei Migration und Wirtschaft einzulassen. Die AfD und die Linke bilden die zwei ideologischen Pole der gesellschaftlichen Auseinandersetzung… Weidel oder Reichinnek.«
II.
Wie üblich bei solchen Parteipapieren stößt der Inhalt unter den Rechtsradikalen nicht auf ungeteilte Zustimmung. Auch im Umfeld der Linkspartei ist das Papier aufgegriffen worden, etwa hier: »Die geleakte Strategie der AfD sieht in der Linkspartei einen nützlichen Idioten, um durch Kulturkämpfe die Gesellschaft in für sie vorteilhafter Weise zu polarisieren.« Sie könne aber der AfD »dankbar sein, dass sie so unmissverständlich klarstellt, dass es sich beim Kulturkampf um eine Falle handelt. Jetzt kann sie ganz in Ruhe ihr klassenpolitisches Profil schärfen«. Denn: Das AfD-Papier »offenbart nicht nur, was für eine Art von Linkspartei die AfD sich wünscht, sondern implizit auch, was für eine Linke sie so gar nicht gebrauchen kann«. Gemeint sind Zielgruppen (»Ostdeutsche, ländlicher Raum, Arbeiter, Russlanddeutsche, Jungwähler«), um die sich »auch eine gut beratene Linke« kümmern solle.
Die Partei diskutiert derweil weiter darüber, was sie sein und tun will. Sabine Ritter und Katharina Dahme haben 13 Thesen dazu formuliert, wie die Linke »als antifaschistische Bündnispartei« reüssieren könne. Dazu müsse sie sich von zwei Illusionen fern halten: dass eine mögliche Regierung unter AfD-Beteiligung bloß »eine Fortsetzung des postdemokratischen Neoliberalismus wie wir ihn kennen« wäre und dass man » die Postfaschist:innen« schon allein »durch den Schulterschluss aller Demokrat*innen« werde besiegen können. »Wir schlagen etwas vor, das auf den ersten Blick paradox wirken mag – manche meinen gar, das sei ein Widerspruch, wir meinen das nicht: Harte sozialistische Oppositionspolitik + Veränderung der Kräfteverhältnisse zwischen den Parteien links der Union + auf diese Weise Beeinflussung der Debatten in den Mitte-Linksparteien, in den sie tragenden politischen Milieus und in der Wähler:innenschaft + Entwicklung einer antifaschistischen Politik, die Bündnisse mit sozialen und politischen Kräften ermöglicht, die heute noch nicht mit uns zusammenarbeiten.«
Damit werden die beiden gegenwärtigen Hauptstränge der innerlinken Diskussion fortgeführt - der zur Frage eines sozial und ökonomisch grundierten Antifaschismus und der darüber, welche Rolle die Linkspartei in Bündnissen zur Verhinderung von AfD-Regierungen spielen kann und sollte. Hier und hier kann man noch mehr solcher Wortmeldungen finden.
Über das »Prinzip Hoffnung und die Zukunft der Linkspartei« macht sich Klaus Dörre in einem Nachtrag zu seiner Abschiedsvorlesung Gedanken, seit der sich die Zustimmungswerte für die Formation deutlich gebessert haben: »Meine These lautet, dass Die Linke sich – eher von den Ereignissen getrieben als im Sinne einer bewussten Ausrichtung – ansatzweise auf den neuen politischen Kampfzyklus eingestellt hat. Die Partei ist zu Adressatin einer Bewegung gegen den Rechtsruck im politischen System und der Gesellschaft geworden.« Nun müsse sie sich aber »neu erfinden«, wobei Dörre sie ausdrücklich nicht als Repräsentantin »der Konventionellen Arbeiterklasse« ansieht, was auf die seit geraumer Zeit in der Partei geführten Diskussionen anspielt.
Stattdessen setzt Dörre den Begriff des Sozialeigentums zentral: Lohnarbeitsklassen gebe es im 21. Jahrhundert nur im Plural und »sie unterscheiden sich nicht allein durch ihre Stellung in Arbeits- und (Re-)Produktionsprozessen, sondern wesentlich durch Struktur und Volumen des jeweils verfügbaren Sozialeigentums«. Dessen Struktur und Verfügbarkeit sei in der »Neuen Arbeiterklasse«, also bei den »akademisch oder vergleichbar qualifizierten Lohnarbeitenden« mit am stärksten ausgeprägt, wodurch sie »die Klasse mit der größten Veränderungsbereitschaft und der geringsten Furcht vor Verwerfungen« sei, »wie sie der sozial-ökologische Umbau mit sich bringt«. Im Gegensatz dazu treffe man in der »Konventionellen Arbeiterklasse«, also »etwa bei Stammbelegschaften im Braunkohlebergbau, dem Öffentlichen Dienst, der Energiewirtschaft oder der Auto- und Zulieferindustrie gelegentlich ausgesprochen konservierende Züge« an. Als »Übergangsprojekt« der Linkspartei, »das alltägliche Interessenpolitik und Systemkritik verbindet«, bringt Dörre einen ökologischen Sozialstaat ins Spiel, »der Wohlhabende gemäß ihres ökologischen und Klimafußabdrucks an den Kosten der sozialökologischen Transformation beteiligt«.
In Auseinandersetzung mit einer der SPD gestellten Krisendiagnose von Gerd Mielke und Fedor Ruhose überlegt Benni Hoff, wie linke Formationen ihr »soziales Kapital« wiederherstellen können, um zu einer »popularen Volkspartei« zu werden. Wenn es zutreffe, dass nicht nur die SPD aufgrund »eines langfristigen Verlusts jener dichten Netzwerke, alltäglichen Beziehungen und kulturellen Bindungen« so drastisch an Verankerung verloren habe, dann liege »die strategische Rückwendung zu konkreter sozialer Präsenz« nahe: »politische Arbeit im Alltag, nicht nur im Wahlkampf – ansprechbar, sichtbar, verbindlich«.
Hoff sieht die Linkspartei einen solchen Weg schon seit 2017 beschreiten, allerdings konnte sich die Wirkung aufgrund der Selbstblockade im Dauerkonflikt mit Wagenknecht und ihrer Anhängerschaft nicht entfalten. Dies habe sich inzwischen geändert, der teils vom Agieren anderer stammende jüngste Erfolg der Linkspartei sei aber auch vom »Wiederaufbau sozialer Beziehungen« getragen, in denen »Solidarisierungserfahrungen dazu führen, sich gemeinsam aus der Misere herauszuarbeiten, sich selbst zu ermächtigen, Selbstwirksamkeit zu erleben – aber auch die vielen schönen Momente gemeinsam zu teilen, die Solidarisierung hervorbringt und neue Verbindungen schafft«.
Mario Candeias hat Julia Dück, Magdalena Schulz und Hans-Jürgen Urban nach ihren Erwartungen »an die Partei der Hoffnung« gefragt, als welche sich die Linkspartei nun gern positionieren möchte. Dabei kommt auch das in der deutschen Linken bisweilen immer noch recht populäre Beispiel der Nouveau Front populaire zur Sprache – allerdings wird eine Übertragung auf deutsche Verhältnisse eher skeptisch gesehen. Es bleibe »unklar, wer ein solches ›Pro-Demokratie-Bündnis‹ tragen und mit welchen Strategien es sich der rechten Offensive entgegenstellen sollte« (Urban). Grüne und SPD hätten »sich zuletzt selbst daran beteiligt, den Nährboden für den erstarkenden Rechtsruck zu bereiten« (Schulz). »Auf der Ebene der politischen Repräsentation gibt es im Moment keine politischen Mehrheiten für eine konsequente antifaschistische Position« (Dück).
III.
Die planetare Frage spielt bei den Erwartungen an ein antifaschistisches Bündnis durchaus eine Rolle. Urban verweist etwa darauf, dass die »Energiezufuhr« für die Rechte nur unterbrochen werden könne, »wenn es gelingt, die notwendige Dekarbonisierung der Produktions- und Lebensweise mit einer sozialen Transformation zu verbinden«. Schulz plädiert dafür »die Betroffenheit ökologischer Krisen als eine Klassenfrage zu begreifen und zu benennen, aber, was wahrscheinlich noch wichtiger ist, klarzumachen, dass sich die Klimakrise nur bekämpfen lässt, wenn sie mit einer gigantischen Umverteilung von Vermögen und Produktionsmacht einhergeht«. Dück meint, »dass eine Fokussierung auf soziale Fragen nicht ausreicht«, eine »gesellschaftliche Volksfront gegen den Faschismus müsste auch für neue solidarische Arbeits- und Lebensweisen werben«.
Damit ist ein Horizont alternativer Vorstellungen angerissen, der weithin als radikal betrachtet werden dürfte, sich vor dem Hintergrund einer Krisenlage aber eher realistisch ausnimmt – was nicht dasselbe wie realisierbar ist. »Wir brauchen mehr Radikalität, nicht weniger«, rufen Otmar Tibes und Oliver Weber in einen anderen Debattenschacht. In diesem geht es grosso modo darum, ob man nicht mit dem Status quo besser fährt in Zeiten, in denen die Disruptionsverheißungen der radikalen Rechten Angst machen und die gesellschaftliche Linke – siehe oben – mit der Aufgabe konfrontiert ist, dies zu verhindern.
Mark Schieritz hat für den Standpunkt geworben, nur eine gemäßigte Politik löse die Probleme der Gegenwart: »Das Bestehende ist im Kontext der westlichen Demokratien mit ihren Grundrechten und Teilhabechancen eine Errungenschaft, um die jahrhundertelang gekämpft wurde.« Den Gegenpol hat schon früher Oliver Weber formuliert, der von der Demokratiekrise ausgehend meinte, diese werde zwar »gesehen und von Wahl zu Wahl in noch dunkleren Farben gemalt, aber die diskutablen ›Alternativen‹ bewegen sich, wenn sie nicht völlig abstrakt bleiben, nichtsdestotrotz weiterhin beinahe vollständig im Rahmen des Status quo.«
Weber hat nun noch einmal zusammen mit Otmar Tibes auf Schieritz geantwortet. Sie gehen vom Beispiel der sozialen Frage aus, in welcher der »Spielraum selbst für sozialdemokratische Normalpolitik so außerordentlich eingeengt« worden sei, »dass die Möglichkeitsbedingungen für ›konventionelle Politik‹ bereits verschwunden sind«. Außerdem, viele Grüße an die Linkspartei, müsse man sich »inzwischen fragen, ob klassische Umverteilung eigentlich des Rätsels Lösung ist. Die deindustrialisierten Regionen Amerikas wollen nicht etwas mehr Transferzahlungen, sie wollen Jobs – und zwar gut bezahlte Jobs.« Doch die »Mittel, um politisch auf die Primärverteilung von Jobs, Löhnen und Vermögen einzuwirken« seien auch ziemlich begrenzt.
Nicht zuletzt führe »die Status-quo-Orientierung bei der Demokratieverteidigung« deshalb in eine Sackgasse, weil sie die Einbettung des deutschen, exportorientierten Wachstumsmodells in eine global immer konfliktreichere Umwelt ignoriere. »Das System, mit dem die Bundesrepublik bisher Wachstum, Steuereinnahmen und Jobs garantierte, greift nicht mehr.« In dem von Tibes herausgegebenen Blog hat Mischa Stratenwerth dazu gerade ausführliche Anmerkungen gemacht. In ihnen steckt aber mehr als eine Kritik des deutschen Wachstumsmodells, das darauf basierte, »die Binnennachfrage zu bremsen und der Exportindustrie Handelsvorteile zu verschaffen« – zu Lasten anderer.
Stratenwerth legt zumindest einen Teil des bisher ungelösten Grundproblems auch derer frei, die »Wir brauchen mehr Radikalität, nicht weniger« rufen: »Kapitalistische Gesellschaften drängen auf Wachstum – wirtschaftliches Wachstum entschärft Verteilungskämpfe, eröffnet Verbesserungsperspektiven und stabilisiert damit letztlich soziale Ordnungen. Damit eine Volkswirtschaft wachsen kann, bedarf es bestimmter Rahmenbedingungen.« Verändern sich diese Bedingungen gravierend, sei »eine Neugewichtung zugunsten der Binnennachfrage grundsätzlich begrüßenswert«, »doch dieser Schluss darf nicht den Blick darauf verstellen, dass ein solcher Wandel sich nicht reibungslos vollzieht«. Zumal »die institutionellen, politischen und ideologischen Beharrungskräfte des alten Modells« tief verankert seien.
Dass es unterschiedliche Wege gibt, Wachstum anzufachen, die sich auch deutlich in der Frage voneinander unterscheiden, wem die Ausweitung von Produktion und Dienstleistungen zugute kommt und welche gesellschaftlichen Gebrauchswerte damit ausgeweitet werden, ist so richtig wie die Tatsache, dass alle ökonomische und stofflichen Steigerungslogiken die planetaren Grenzen überwuchern, was mit kaum noch zu korrigierenden Effekten einhergeht, die eben auf alles andere hinauslaufen als auf Stabilisierung von sozialen Ordnungen. Die Fesselung der bisherigen Modi von sozialer Integration und gesellschaftlichem Fortschritt an diese Steigerungslogiken hat in eine biophysikalische Existenzkrise geführt.
Welche Wege aus ihrer herausführen können, das klärt sich um diesen neuralgischen Punkt herum: um die Wachstumsfrage. Antikapitalistische Abkürzungen sind dabei ebenso wenig »radikal« wie all die Beruhigungspillen, nach denen wir schon irgendwann die Entkoppelung von Emissionen technologisch hinbekommen werden. Für eine Beachtung nicht nur der Kritik der politischen Ökonomie, sondern auch einer Kritik der politischen Physik (Zeitfragen, Fragen des Materialflusses, der anderen »planetaren Grenzen« usw.) sind womöglich noch nicht einmal die wichtigsten Fragen schon gestellt, geschweige denn beantwortet.
Wie dick das Brett ist, an dem zum Glück schon viele bohren, hat Oliver Weber dieser Tage in einer Rezension von Fritz Bartels »Gebrochene Versprechen« vermessen. In dem Buch geht es um die Frage, wie nominalsozialistische und kapitalistische Länder imstande waren, mit denselben systemischen Zwängen umzugehen, als mit dem Zugang zu billiger fossiler Energie auch die Grundlage der Nachkriegsprosperität verschwand.
»Der von der OPEC initiierte Ölpreisschock stellte mit einem Schlag die Grundlage des westlichen wie des östlichen Gesellschaftsvertrags infrage. Die industrielle Massenproduktion von Konsumgütern mitsamt Vollbeschäftigung, Konjunkturpolitik und schnellen Lohnsteigerungen wurde von ihrem wichtigsten Rohstoff, in großer Menge billig verfügbarer Energie, abgeklemmt. Irgendjemand musste die gestiegenen Kosten tragen«, so Weber. Ost wie West standen – trotz unterschiedlicher Systeme, aber bei gleichermaßen »wachstumsverwöhnten Massengesellschaften« – vor derselben Frage. Es sei von da an nicht mehr darum gegangen, »wer die Versprechen auf ein besseres Leben besser erfüllen, sondern darum, wer sie brechen konnte, ohne die Kontrolle über sein Land zu verlieren«.
Welche Rolle für den bekannten Ausgang dieses Wettlaufs Finanzmarktdynamiken, der Rüstungswettbewerb, die Kreditwürdigkeit Moskaus und die Folgen der ausbleibenden Unterstützung durch die Sowjetunion in den Ländern ihres Machtbereichs spielten, sind Fragen von historischer Tragweite. Der Nexus aus den Problemkreisen »fossile Energie« und »Wachstum als Gesellschaftsvertrag« ist ein aktueller.