In der TAZ rufen uns Maike Weißpflug, Claus Leggewie, Daniel Cohn-Bendit, Klaus Lederer und Alexander Karschnia entgegen: »Keine Zeit für Pessimismus«. Sie beziehen sich auf das Manifest von Ventotene von 1941 und auf den jüngsten internationalen Aufruf »gegen die Rückkehr des Faschismus«, meinen zu letzterem aber: »für eine politisch wirkungsvolle Antwort fehlt einiges oder ist nur angedeutet«.
Oder anders: »Wer heute den Faschismus bekämpft, muss in Europa, Amerika und weltweit deutlicher machen, für welches ›Pro‹ man einsteht: Formal ist das für uns die Idee eines ›demokratischen Föderalismus‹. Das geeinte Europa ist eine Alternative zur Großmachtpolitik, deswegen wird es von neoimperialen Mächten gehasst. Inhaltlich plädieren wir für politische Interventionen und Regulierungen, die den Klimawandel und das Artensterben eindämmen, mit einem pfleglichen Umgang mit der Erde, für eine bessere Lebenswelt in Stadt und Land, eine sinnvolle Arbeitswelt.« Man solle den Bürgerinnen »nicht mit Verboten und Verzichtsleistungen kommen, erst recht nicht mit apokalyptischen Vorhersagen. Sondern mit Veränderungen, die sie im Kern selbst mehrheitlich befürworten und vorantreiben.« Welche? »Wir brauchen neue Ideen für diese neue Welt. Resignation ist Luxus, Pessimismus ist Zeitverschwendung.«
Georg Diez spricht auch von der »Notwendigkeit des Neuen«, attestiert dem Ist-Zustand aber erst einmal kognitive Dissonanz: »Sehr viele Menschen können sich darauf einigen, dass es so nicht weitergehen kann. Sie können sich darauf verständigen, dass es Alternativen geben muss zu der Politik der vergangenen Jahre und Jahrzehnte.« Doch was passiert, »wenn eine Alternative auftaucht? Wenn ein Bruch mit dem Bestehenden formuliert wird, der vor allem die begeistert, die von den Generationen vor ihnen zurückgelassen wurden, mit dem Verdikt belegt, sie seien passiv, apathisch, technologieabhängig, irgendwie kindisch, selbst oder gerade in ihrem Versuch zu protestieren?« Dann breche meist »progressive Panik« aus.
Gemeint sind die Dems in den USA; Labour, die SPD… »mit solchen Progressiven kann man nicht das Neue bauen, das so dringend notwendig ist und vor allem absolut möglich.« Es geht Diez darum, dass »der Bruch mit dem Bestehenden« heute in Wahrheit realpolitischer Pragmatismus wäre, eine »Stabilisierungspolitik, weil die Dynamik des Gegenwärtigen die Widersprüche unserer Gesellschaften und unserer Welt exponentiell verstärkt und zuspitzt. Das Neue wäre demnach erst einmal der Versuch, mit der Logik der Beschleunigung zu brechen oder mit dem Hinnehmen von Ungerechtigkeit als angeblich unausweichliches Design-Element unserer Zeit. Es ist also keine Zeit für Revolutionen, auch keine Zeit für Ideologien, es ist eine Zeit für konkrete Lösungen und Ideen, wie das Leben für alle besser sein könnte, und dann die Umsetzung dieser Ideen.« Also: »Eine neue, andere Form von Politik wird in der alten Form nicht wirklich machbar sein. Es braucht andere Prozesse, andere Offenheit, andere Allianzen, andere Parteien, um das Neue zu ermöglichen.«
Alban Werner nimmt sich ebenfalls den »Zentrismus der Verlegenheit« vor, von einer anderen Seite her: Es geht ihm um die brüchige Geschäftsgrundlage der schwarz-roten Koalition, den bisher »dominierenden Politikmodus der Bundesrepublik, der heute in eine Sackgasse geführt hat. Das Grundgerüst dieser Politik bestand in einer Kleinarbeitung sozialer Probleme und Konflikte unter die Aufmerksamkeits- und Erregungsschwelle der Volksparteien«, eine »trügerische Befriedung ohne Auflösung der problematisierten Widersprüche«.
Weil dieser Politikmodus vor allem durch die radikale Rechte herausgefordert ist, ziehen sich die anderen Parteien auf die Verteidigung eines Mythos zurück: »die Mitte«. Philipp Manow zitierend, der vom »Fetisch bundesrepublikanischer Politik« spricht, glaubt Werner, »dass die politische Mitte und die ihr zuneigenden Deutungseliten nicht nur die Entschlossenheit und Rücksichtslosigkeit der radikalen Rechten an der Regierung unterschätzt haben. Unter der langen Dominanz neoliberaler Politik haben sie auch politische Unterscheidungskraft eingebüßt.« Der (erweiterten) Linken gehe es darum, »das Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft gegen deren eigene Strukturen einlösbar zu machen«; der erweiterten Rechten darum, »das Versprechen selbst zugunsten der schlechteren Realität zu revidieren«. Auch Werner sieht eine neue Radikalität als nötig an: »Nach jahrzehntelanger, neoliberal begründeter Schwächung und Vernachlässigung wird bereits der Erhalt des demokratischen und sozialen Rechtsstaats nur mit radikaleren Maßnahmen zu haben sein.«
»Es fehlt eine plausible Strategie, um aus der andauernden Defensive und der Logik des kleineren Übels herauszukommen. Oder anders gesagt: Die Hoffnung muss dringend die Seiten wechseln. Nötig ist eine politische Perspektive für eine progressive Bearbeitung der zahlreichen Krisen«, meint auch Jan Schlemermeyer, der noch einmal für »ein progressives Projekt 2029« plädiert: »Es braucht gesellschaftlich viel mehr, um heute einen progressiven Politikwechsel durchzusetzen, als parlamentarische Politik oder eine progressive Regierungsoption. Und der Sozialismus wird dabei vorerst sicher nicht herauskommen. Aber ohne zumindest die realistische Möglichkeit von R2G bei der nächsten Wahl kann alles andere wegen der Gefahr von Schwarz-Blau und eines autoritären Kipppunktes sonst ohnehin schnell irrelevant werden.« Den drei adressierten Parteien rät er, über bloße Arithmetik hinauszublicken - »bei so einem ›Volksfrontprojekt‹ müssten sich alle bewegen: SPD und Grüne bei Verteilungs- und Eigentumsfrage nach links, alle bei Demokratie und Europa nach vorne und Die Linke bei der Außenpolitik nach ›rechts‹. Wie und wie weit genau? Das wird eine Frage der Kräfteverhältnisse und der Aushandlung.«
Was man in der Linkspartei davon hält? Harald Wolf rät dieser Formation, sie möge weiter »auf Triggerpunkten tanzen«. Ihr Wahlerfolg sei »Glück der Tüchtigen« gewesen, biete aber »eine gute Ausgangsposition für die weitere Arbeit«. In dieser sei nicht zuletzt entscheidend, dass die Linkspartei »sich auch dringend inhaltlich und konzeptionell weiterentwickeln« muss: »Ein für Die Linke glücklicher Umstand im Wahlkampf 2025 war, dass mit der Dominanz der Migrationsdebatte der Ukrainekrieg nur eine untergeordnete Rolle spielte.« Die Partei sei teils »trotz und nicht wegen ihrer Außen- und Sicherheitspolitik gewählt« worden, es fehlten »zeitgemäßere sicherheits- und außenpolitische Konzepte«. Mit Blick auf die planetare Frage, auch die ein »Triggerpunkt«, welcher Wolfs Ansicht nach von Grünen und SPD »nach dem politischen Debakel um das Heizungsgesetz« gescheut wurde (trifft dies nicht ebenso auf die Linkspartei zu?), propagiert Wolf »eine ökologische Klassenpolitik«, die vor allem gegen Konzerne (Geschäftsmodelle) und Vermögende (Luxuskonsum) gerichtet sein soll. Ein veränderter kollektiver Konsum solle durch entsprechende Politiken der Ermöglichung realisiert werden.
Viel von »Klassenpolitik« ist in der Linkspartei ohnehin schon die Rede. Kerstin Wolter empfiehlt der Formation, als »linke Polarisierungsunternehmerin« vorzugehen: Lange habe die Partei ihre Aufgabe in der »gesellschaftlichen Klassenauseinandersetzung« nicht wahrgenommen: »Wer sich mit Themen wie Klimaschutz, (Queer-)Feminismus und Antirassismus auseinandersetzte und diese in der eigenen politischen Praxis aufgriff, sah sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, die Interessen der Arbeiter*innenklasse nicht mehr zu vertreten und Klassenfragen durch ›identitätspolitische‹ Fragen ersetzt zu haben. Ob das an manchen Stellen tatsächlich passiert ist, ist viel weniger interessant als der Umstand, dass sich Die Linke durch diesen Konflikt in die politische Handlungsunfähigkeit manövrierte.« Nun gebe es »ein neues Zeitfenster«: Die Linke vertrete »die Interessen der arbeitenden Menschen in diesem Land. Das meint alle, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um leben zu können, aber auch Erwerbslose und jene, die nicht (mehr) lohnarbeiten können oder dürfen wie Asylsuchende, Rentner*innen, Mütter in Elternzeit, Arbeitsunfähige oder Kinder.« Für das, was als »Erzählung« dieser »emanzipatorischen Klassenpolitik« angerissen wird, brauche man »organische Intellektuelle. Die Linke hat in den letzten Jahren viele dieser Intellektuellen verloren. Sie hat jetzt die Chance, neue zu finden und alte wieder von sich zu überzeugen.«
Lia Becker plädiert hier und ausführlicher hier dafür, »über das Verhältnis von linkem Regieren, Antifaschismus und Transformationsperspektive« neu nachzudenken: »Es ist sinnvoll, Situationen einer extremen Defensive – dazu zählt, eine unmittelbar drohende AfD-geführte Regierung zu verhindern – von der Perspektive einer linken Regierung, einer Regierung des sozialen Antifaschismus zu unterscheiden.« Für die Defensiv-Option werden »Mindestbedingungen seitens der Linken«, für die Offensiv-Option wenig Hoffnungen formuliert: »Angesichts des Zustands von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ist eine linke Regierung 2029 oder früher kaum vorstellbar«. Es gehöre zur Schwäche der (erweiterten) Linken, »dass ein gesellschaftliches, nicht primär von den Parteien ausgehendes Bündnis derzeit kaum realistisch erscheint«. Erst wenn »Deutungshoheit über die soziale, wirtschaftliche und politische Krise« erlangt »und eine Mehrheit der Menschen für einige zentrale Reformprojekte« gewonnen werden konnten, »kann sich die Perspektive einer Regierung des sozialen Antifaschismus eröffnen«. Mit dieser wäre zwar noch kein »sozialökologischer Bruch mit dem Neoliberalismus« geschafft, es würde aber Zeit gewonnen »für den Aufbau von Gegenmacht schaffen und die Bildung von Hegemonie«. Es gehe um die Bildung einer »gesellschaftlichen Partei«, welche »die Träume, Sorgen und die Energie von vielen Menschen über die Grenzen der Parteiorganisation im engen Sinne hinaus aufgreifen und politisch bündeln« könne.
Um den derzeit recht populären Begriff »Sozialer Antifaschismus« dreht sich auch Kathrin Mohrs Forderung, die Gewerkschaften als »Teil einer antifaschistischen Sammlungsbewegung« mitzudenken: Ziel sei eine »breite Allianz«, für diese seien die Machtressourcen des DGB - Millionen Mitglieder und Zugänge zu den Beschäftigtengruppen - unabdingbar. Dies Gewerkschaften müsste sich aber auch »einbinden lassen. Sie müssen sich auf breite Bündnisse auch mit Partner*innen einlassen, die ihnen vielleicht manchmal zu klein, zu sehr Nische sind, zu radikal erscheinen und nicht glauben, sie könnten alles aus eigener Kraft oder über privilegierte Zugänge zu manchen Parteien lösen.« Kernprojekt einer solchen Allianz müsse eine »antifaschistische Wirtschaftspolitik« sein. (Zu Debatte und Begrenztheit dieses Konzepts finden sich ua hier einige Anmerkungen.)
Allianz, Volksfront, Sammlungsbewegung… Ein passender Name wäre schön, aber noch nicht die Rettung, so Kathrin Gerlof in der Diskussion des Instituts Solidarische Moderne, in der es auch noch den begriff »Zukunftslinke« gibt: »Wer gehört dazu? Wer nicht? Für wen und gegen was? Welche und wessen Zukunft wird adressiert? Braucht die oder das Linke überhaupt noch die Zukunft im Namen – muss es also ein Kompositum sein? Stellt das Kompositum klar, dass es auch eine Vergangenheitslinke gibt? Oder soll es nur verstärken, dass hier die Fähigkeit adressiert wird, aus der Gegenwart heraus (die ziemlich schrecklich ist) eine bessere Zukunft beschreiben zu können? Und dabei möglichst viele Bündnispartner:innen zu finden und stärker zu werden?«
Sebastian Friedrich greift sich einen anderen Punkt der Debatte heraus: SPD und BSW würden derzeit die beiden Pole in der Frage nach dem richtigen Umgang mit der AfD besetzen: »Verbieten oder normalisieren – falsch sind beide Strategien.« Kritisiert wird dabei auch der »Kurs der formalen Distanz«, dieser sei »auch aus linker Perspektive« problematisch: »Die Rede von den ›demokratischen Parteien‹ und die symbolische Umarmung von Linkspartei und Union lassen die Linke für viele Enttäuschte eher als Teil des Establishments denn als Alternative erscheinen.« Gegen die radikale Rechte helfe »nur eine langfristige Strategie, denn sie ist vor allem ein Krisenphänomen«, richtig sei »daher der eingeschlagene Weg einer antifaschistischen Wirtschaftspolitik und klassenpolitischen Ausrichtung. Ob diese Strategie aufgeht, wird sich nicht in Monaten zeigen, sondern erst in Jahren. Im Kampf gegen rechts gibt es keine Abkürzungen.«
Auch die Vorsitzende der Linkspartei, Ines Schwerdtner, glaubt, es sei die »Gretchenfrage«, Arbeiter von der AfD zurückzugewinnen. Sie habe sich »in der Geschichte der sozialistischen und kommunistischen Parteien schon immer gestellt hat. Schafft man es, die reale Unterdrückung oder, wie im Fall vieler Ostdeutschen, die fehlende Anerkennung und Erniedrigung, die sie erlebt haben, in fortschrittliche Politik umzumünzen und in Forderungen, die der Allgemeinheit dienen?« Jedenfalls werde die Linke »keine Klassenpartei, indem wir es als Monstranz vor uns hertragen, sondern nur durch konkrete Taten«.
Mit Blick auf Umfragewerte, die im Grunde alle Parteien innerhalb der statistischen Schwankungsbreite um ihr Wahlergebnis vom Februar sehen, wird zwischen Linkspartei und Grünen jetzt medial gern eine Art sportliches Wettrennen ausgerufen: »Wer gewinnt den Kampf um die Stimmen der Progressiven?« Aber ist das denn überhaupt die richtige Frage? Es klingt, als gehe es um eine andere Verteilung eines Stücks vom Zustimmung, der aber zu klein ist, um satt zu machen. Müssten die »Stimmen der Progressiven« nicht vor allem insgesamt mehr werden?
Dazu ein Einschub, hier war folgende Rechnung aufgemacht worden: »Unter der wahlberechtigten Bevölkerung ist der Anteil derer, die bereits sind, SPD, Grüne oder Linken die Zweitstimme zu geben, 2025 etwa so hoch wie 1990: ungefähr 30 Prozent. In den 1990er Jahren erhielt dieses Spektrum vorübergehend mehr Zustimmung - 1994 votierten gut 37 Prozent der Wahlberechtigten für eine der drei Parteien, 1998 fast 43 Prozent. Das Ende von Rot-Grün war zugleich da Ende dieser vorübergehenden Plateau-Phase. Schon 2009 lag der gemeinsame Zweitstimmenanteil der mehr oder weniger linken Parteien wieder knapp unter einem Drittel (2009: 31,8% - 2013: 30,2% - 2017: 29,2%). Auch 2021 kam man zusammen gerade auf gut 34%. Inzwischen ist man wieder bei 30 Prozent.« Bei einer recht stabilen relativen Mitte-links-Minderheit gab es vor allem deutliche Verschiebungen zwischen SPD, Grünen und Linken. »1990 repräsentierten die Sozialdemokraten noch 84 Prozent der kumulierten Zweitstimmen - 2025 waren es noch 45 Prozent. Bei insgesamt kaum erweiterter Zustimmung für die drei Parteien haben sich die maßgeblichen Entwicklungen zwischen ihnen abgespielt: Im Grunde sortiert sich das ›progressive Lager‹ in der Wählerschaft jeweils um andere Themen herum neu. Dem ›Hartz‹-Effekt folgte Umverteilung eher zur Linken, der raumgreifenden Erkenntnis, dass der Planet abbrennt, folgte Umverteilung eher zu den Grünen. Zuletzt erfolgte wieder Umverteilung eher zur Linken, weil diese im Vergleich mit SPD und Grünen für bestimmte Wählergruppen glaubwürdiger in der Demokratie- und Migrationsfrage waren.«
Was bei den Grünen diskutiert wird, fand zuletzt wegen einer Klausur medial einige Aufmerksamkeit. Britta Haßelmann und Katharina Dröge hatten dazu ein »Strategiepapier« formuliert, in dem es gleich zu Beginn heißt: »Es gibt in Deutschland aktuell keine Mehrheit für eine progressive Politik.« Das könne nur anders werden, wenn »auf den Versuch eines Rollbacks mit einem neuen gesellschaftlichen Aufbruch« geantwortet werde. Dafür wiederum sei »Wettstreit zwischen Demokrat*innen um die beste Idee und die beste künftige Regierung« nötig: »man sollte eine Partei aus echter Überzeugung wählen können, nicht aus Angst vor der Alternative.«
Wie genau der Aufbruch ausbuchstabiert werden könnte, dazu macht das Papier nur skizzenhafte Angaben, im Vordergrund steht etwas anderes: Grüne Selbstfindung in der Opposition und eine andere Tonalität, es gehe darum, »Veränderung künftig wieder positiv zu sehen.« Progressive Politik brauche »das Ringen um die beste Idee, um den besten Weg und sie braucht manchmal ein paar Schleifen mehr an Überzeugungsarbeit.« Dann ist von einem »progressiven Bündnis aus drei sehr unterschiedlichen Parteien« die Rede, gemeint ist aber die Ampel.
Dem Papier sind andere vorausgegangen, was Gelegenheit zu Vergleichen gibt: Die Grünen-Chefs Felix Banaszak und Franziska Brantner hatten in einer Sonntagszeitung umrissen, welche Lehren sie aus dem Scheitern der Ampelkoalition ziehen: »Unsere große Aufgabe ist es, für diese Realitäten die richtige Sprache zu finden, zwischen Alarmismus und Ignoranz, und von der Gesellschaft akzeptierte Handlungen daraus abzuleiten. Dabei ist der Umgang mit Klima- und Naturschutz die soziale, wirtschaftliche und demokratische Schlüsselfrage unserer Gesellschaft.« Antworten darauf müssten Unterstützung mobilisieren, »statt Widerstand auszulösen«: »Deshalb wollen wir unsere Ziele klar aufzeigen, Zumutungen transparent benennen, Kompromisse erklären.«
Brantner hatte an anderer Stelle auf den Gastbeitrag angesprochen worden: »Sie wollen wieder näher ran an die Alltagsprobleme der Menschen, ihnen mit Ehrlichkeit und Empathie begegnen. Ist das nach vier Monaten Nachdenken nicht ein bisschen wenig?« Zur Antwort liest man dann viele Schlagworte, die eine stärker sozialpolitische Orientierung andeuten: »Alltagsprobleme«, »gute Rente für alle Generationen, bezahlbare Mieten, die Chance, mit eigener Arbeit voranzukommen«, »Kinderarmut« usw. Was die übergreifende planetare Frage angeht, will Brantner eine »neue Vision, eine grüne Idee von Zukunft« in Stellung bringen: »Von den altbekannten Grenzen des Wachstums zu: Wie wachsen die Grenzen?«
Unter den Beobachtern kommt das noch nicht so wie erhofft an. Baerbock und Habeck hätten »bei den Grünen ein Macht- und Charismavakuum hinterlassen. Die neue Führung vermag es kaum zu füllen. Eine Sinnkrise droht«, heißt es etwa hier. An anderer Stelle wird gewarnt: »Es reicht nicht, wenn nur die Grünen grün sind«. Das Strategiepapier der Fraktionsvorsitzenden wird »fetzig« genannt, es »atmet den an dieser Stelle lange vermissten Realitätssinn von Leuten, die sagen, was sie machen, und nicht so tun, als würden sie es gar nicht machen oder zumindest gar nicht so meinen«. Etwas ernster dann weiter: »Gerade für den Klimaschutz in Deutschland ist es eine wohltuend gute Nachricht, wenn seine eventuell wichtigste Lobbygruppe – die grüne Bundestagsfraktion – aktiv dem hartnäckigen Anspruch aller anderen entgegenwirkt, Klimaschutz wäre nur als spaßige und sinnerfüllende Kinderferienparty okay, bei der alle immer gewinnen und sich auch noch alle immer super fühlen – edel, gut und total produktiv.«
Nun könnte man einwenden, die Grünen sind keineswegs schon dabei, bis dorthin vorzustoßen, wo es anfangen wird, richtig weh zu tun – weit über das bisher bekannte Maß hinaus. Während Brantner offenbar nach einer neuen Illusionserzählung sucht (wenn Wachstum an Grenzen stößt, soll man die Grenzen wachsen lassen), werfen Haßelmann und Dröge immerhin die richtige Frage auf: »Klimaschutz ist deshalb eine Machtfrage. Er ist eine Auseinandersetzung darüber, welche Wirtschaft wir wollen.« Das ist sicher auch irgendwie eine »systemische« Angelegenheit, siehe als eine mögliche Antwortkategorie »Antikapitalismus«. Es ist aber vielleicht mehr noch eine biophysikalisch-stoffliche Frage. Die bisher verfolgt Strategie, in der die Senkung der Emissionsintensität pro produzierte Güter und Dienstleistungen im Zentrum steht und die auf »Entkoppelung« setzt, ist - mindestens - zu optimistisch. Vor allem wenn man sie mit Annahmen über das BIP-Wachstum in Verbindung setzt, die derzeit noch so etwas wie die lagerübergreifende Süßer-Brei-Ressource darstellt: »Wohlstand braucht Wachstum«.
Aber, wie man zum Beispiel bei der Bertelsmann-Stiftung nachlesen kann: »Um das derzeitige Niveau unseres BIP im Verlauf der nächsten 22 Jahre auch nur halten zu können, müsste unsere Emissionsintensität im Zuge der Transformation durchschnittlich um knapp zehn Prozent jedes Jahr sinken. Soll es derweil auch noch Wachstum geben, zum Beispiel um 1,2 Prozent wie im Durchschnitt der letzten drei Jahrzehnte, dann müsste sich dieser Entkopplungsfortschritt auf märchenhafte 11,3 Prozent per annum verbessern. Zum Vergleich: Seit 1991 sinkt die Emissionsintensität im Schnitt um nur drei Prozent jährlich. Bei dieser Rate würde Deutschland 2045 nur noch ein BIP von 650 Milliarden Euro erwirtschaften können, um das Ziel der Klimaneutralität trotz mangelnder Entkopplungsfortschritte erreichen zu können. (…) Zwar zeigte sich in der letzten Dekade im Vergleich zu den beiden vorherigen Jahrzehnten eine gewisse Beschleunigung des Entkopplungsprozesses, doch bleiben die jährlichen Rückgänge der Emissionsintensität zu gering und sehr volatil.«
Gegen einen Transformationsverlauf mit nachhaltig sinkendem oder stagnierenden Ausstoß an Gütern, wird ins Feld geführt, dieser »liefe Gefahr, den Rückhalt in Wirtschaft und Gesellschaft zu verlieren, weil er als ökonomischer Niedergang mit hohen und ungleich verteilten Belastungen empfunden werden könnte«. Dem wird man nicht leichtfertig widersprechen wollen, aber man darf darauf hinweisen: Ein Transformationsverlauf, der die biophysikalische Existenzkrise mit hoher Dynamik weiterlaufen lässt, kann in Zustände führen, in denen Gedanken an »ökonomischen Niedergang« wie anachronistische Luxusmarotten erscheinen werden. Die Gefahren könnten um ein Vielfaches gravierender sein.
Abgesehen davon, dass auch bis in die Grünen hinein die Diskussion viel zu emissionsfixiert bleibt. Der ausufernde Gesamtstoffwechsel und die entropische Begrenztheit von Kreislaufmodellen sind ja keineswegs nebensächlich. Die Rolle die Biodiversität, planetare Stoffkreisläufe und anderes spielen, sind noch kaum »politisch angekommen«. Dabei liegen die Ansetzpunkte für eine Debatte überall herum. »Gibt es Wohlstand ohne Wachstum?«, fragt Uwe Jean Heuser – und man muss mit seiner Antwort keineswegs einverstanden sein um zu hoffen, dass solche Texte dabei helfen, dass künftig jede zweite dieser trostlosen Talkunterhaltungsformate dazu abgehalten wird. Statt weiterhin jene Neigung zur Niedertracht quotenmäßig auszubeuten, die solche Sendungen selbst mit hervorbringen: Migration? Bürgergeld?
Noch ein paar Worte zur SPD. Thorben Albrecht und Christian Krell sehen deren Lage »Ernst, aber nicht hoffnungslos«. Sie fangen ihren Beitrag mit einem Hinweis auf Ralf Dahrendorfs berühmt gewordene These vom »Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts« an. »Die Partei hat diese Prognose bisher um 42 Jahre überlebt. Aber das konstituiert keine Ewigkeitsgarantie, wie sich an sozialdemokratischen Parteien in anderen europäischen Ländern sehen lässt.« Benannt werden dann drei erste inhaltliche Eckpunkte, »die an die programmatische Tradition einer solidarischen Partei der Arbeit anschließen und diese auf eine neue Zeit beziehen«. Es geht also um die Übersetzung von Tradition in Zukunftsfähigkeit.
Die Punkte lauten: »Erstens: In verteilungspolitischer Hinsicht geht es um eine zugespitzte Interessenvertretung. Diese beginnt mit dem Benennen von gegebenen Interessengegensätzen… Zweitens: In sozialpolitischer Hinsicht gelingt es der extremen und neoliberalen Rechten in der aktuellen Diskurslandschaft, die Interessen innerhalb einzelner Gruppen gegeneinander auszuspielen… Dabei könnte die Idee solidarischer Organisation gerade in Zeiten tiefsitzender Verunsicherung und Polykrisen ganz neue Kraft und Attraktivität entfalten. Wohlfahrtsstaatlichkeit schützt in diesem Sinne alle, weil sie nicht als Almosen für selbstverschuldetes Unvermögen verstanden wird, sondern als kollektive Absicherung, die jeden schützt, der darauf angewiesen ist.« Und »Drittens: In gesellschaftspolitischer Hinsicht steht die SPD für eine freie Gesellschaft, in der unterschiedliche Lebensentwürfe und Identitäten ihren Raum finden. Historisch waren Fragen der gerechten Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen immer mit Fragen von Anerkennung unterschiedlicher Identitäten verbunden… Eine moderne Sozialdemokratie muss daher so etwas wie ›Kollektive der Vielfalt‹ schaffen, die Verbindendes wie die Erwerbsabhängigkeit, aber auch das Recht auf universale Diskriminierungsfreiheit für den Zusammenhalt nutzen und auf dieser Grundlage spezifische Identitäten zulassen, ohne dass dies zu Spaltungen führt.«
Was Dahrendorf seinerzeit aber unter anderem zu seiner These trieb und was hier fehlt, hat Wolfgang Merkel in einer Kritik an Dahrendorf 1992 einmal so formuliert: »Als sich zu Ende der 70er Jahre wirtschaftliches Wachstum, zweifellos der zentrale Parameter des wohlfahrtsstaatlichen Kompromisses, nicht mehr ohne verschärfte Verteilungskonflikte und negative außenwirtschaftliche Folgen über globale Nachfragesteuerung herstellen ließ, verloren die keynesianischen Steuerungsrezepte an wirtschaftlicher Wirkung und politischer Attraktivität. Der einstige Erfolgszusammenhang von Keynesianismus und Sozialdemokratie schien sich nunmehr zu verkehren, die Krise des Keynesianismus drohte die Krise der Sozialdemokratie nach sich zu ziehen.«
Damit ist ein Hoffnungs-Problem nicht nur der SPD beschrieben, wobei es hier weniger um die Tauglichkeit oder Durchsetzbarkeit keynesianischer Steuerungsrezepte geht, sondern auf deren risikobehafteter planetarer Pointe: Sie sollen immer mehr Wachstum erzeugen, weil das die Verteilungsressource für soziale Integration im Kapitalismus ist.