I.
Als Olaf Scholz im vergangenen November die Ampel-Regierung beendete, wurde seine Erklärung vor allem mit Blick darauf gelesen, was der Sozialdemokrat zum Gebaren des FDP-Finanzministers zu sagen hatte. Es steckte in Scholz’ Worten aber auch eine Begründung, die über Christian Lindners politische Sabotagen hinausging und implizit auf die wachsende Zustimmung für die rechtsradikale AfD abstellte: »Angesichts der Herausforderungen, vor denen wir gemeinsam stehen«, brauche es »eine handlungsfähige Regierung, die die Kraft hat, die nötigen Entscheidungen für unser Land zu treffen… Gerade weil wir es auch in Zukunft mit Wahlergebnissen zu tun haben werden, die Kooperation und Kompromisse erfordern«.
Die AfD stand im vergangenen November in Umfragen bei Werten (um 18 Prozent), die sie auch schon 2018 fast erreicht hatte (um 15 Prozent), als Friedrich Merz im Kampf um den CDU-Vorsitz erklärte, man könne »die AfD halbieren«. Als er dann vier Jahre später doch noch Unionsvorsitzender wurde, war die AfD zwar nicht halbiert, aber deutlich geschrumpft (um 10 Prozent). Merz trieb als Oppositionsführer in einer Weise Keil um Keil in das Ampel-Bündnis, die nach vielstimmiger Ansicht durch »Normalisierung« eine AfD stärkte, deren Wachstum aber aus wiederum anderen, bisweilen sehr unterschiedlichen Perspektiven auch der Ampelpolitik selbst zugeschrieben wurde. Denen einen war die zu grün, anderen zu wenig links.
Nachdem die Scholz-Regierung zerbrochen war, radikalisierte Merz das AfD-Mimikry bis zur Bereitschaft, mit der Weidel-Partei im Bundestag Mehrheiten zu bilden. Ein paar Wochen später trat Scholz’ Vorhersage ein, man werde es mit Wahlergebnissen zu tun haben, die Kooperation und Kompromisse erfordern: Die AfD schnitt doppelt so stark ab wie zu Merz’ Antritt als Chef der CDU, die nun aufgrund (bisher noch ausgeschlossener) anderer Optionen mit der SPD eine Koalition bildet. Was dabei herauskommt, wird nach vielstimmiger Ansicht die AfD weiter stärken.
Allerdings gibt es dazu wieder, grob gesprochen, zwei konkurrierende Sichtweisen: Von rechts wird angeführt, das schwarzrote Bündnis gehe zu wenig auf das ein, was bei Themen wie Migration, Sozialtransfers und Wirtschaftspolitik zum »Volkswillen« erklärt wird. »Wir müssen uns mehr an dem orientieren, was die Menschen in diesem Land für richtig halten.« (Michael Kretschmer) Von links wird eingewandt, das schwarz-rote Bündnis werde im Gegenteil gerade so die AfD noch größer machen. Begleitend wird darauf verwiesen, was die Menschen in diesem Land stattdessen für richtig halten würden, etwa Umverteilung und stabile Brücken.
Beide Sichtweisen sind auch innerhalb der Koalition in spe miteinander verschränkt. Stefan Reinecke hat das so auf den Punkt gebracht: »Schwarz-Rot verkörpert, in Schwundstufe, die bundesdeutsche Kompromisskultur. Der Koalitionsvertrag steht in der Tradition des moderaten Ausgleichs der Interessen – hier harte Abschreckung von Flüchtlingen, dort Milliarden für Investitionen und keine Rentenkürzung.« Das soll, erklären die Regierungspartner, gegen den Aufstieg der Rechtsradikalen helfen (»letzte Patrone der Demokratie«), wenn man sich zusätzlich auch noch besser miteinander vertrage. Das klappt schonmal nicht: Kaum war der Koalitionsvertrag vorgestellt, verhielten sich die Parteien kaum anders als die der Ampel-Zeit und streiten seither, worauf man sich eigentlich geeinigt hat.
Schwarz-Rot macht dabei demoskopisch eine noch schlechtere Figur als die Ampel es zu ihrem Start getan hatte. Das zeigen Zahlen wie jene aus Allensbach, die so schlecht sind, dass in der FAZ ein Beipackzettel formuliert wurde, der wohl eher die politischen Akteure ermutigen, als die Wählerinnen beruhigen soll: »Dem voraussichtlichen Kanzler trauen sie ebenso wenig zu wie den Parteien, die die Koalition tragen. Von der Regierung sind sie enttäuscht, bevor sie überhaupt die Amtsgeschäfte aufgenommen hat. Das muss für die Regierungsparteien keine schlechte Nachricht sein, denn die Fallhöhe zwischen den Erwartungen und der Realität des Politikalltags, die sich zeigen wird, ist denkbar gering. Die neue Regierung kann kaum noch enttäuschen, nur noch positiv überraschen.«
Womit? Und wen? Die beiden grundverschiedenen Perspektiven scheint es ja auch in der Wählerschaft zu geben – den einen ist Merz inzwischen zu merkelesk, den anderen tickt die SPD inzwischen zu rechts. Was Reinecke »bundesdeutsche Kompromisskultur« nennt, hat zudem einen Zeitstempel: Es repräsentiert in wichtigen Punkten höchstens vergangene Antworten auf die »Herausforderungen, vor denen wir gemeinsam stehen« (Scholz). Eine übergeordnete Idee, welchen Ausweg aus der komplexen, widersprüchlichen Krisenhaftigkeit der Zustände man einschlagen will, ist nicht erkennbar. Das liegt nicht einmal daran, dass die Wahlergebnisse Kooperation und Kompromisse erfordern zwischen Partnern, die darüber unterschiedliche Vorstellungen haben. Es liegt daran, dass es an solchen Vorstellungen offenbar gänzlich mangelt.
II.
Die Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach meint, die anstehende Koalition brauche keine neue »Fortschritts-Großerzählung«, sondern eine »Verlässlichkeits-Erzählung«, die Sicherheit bietet. Stefan Reinecke meint, es »bräuchte etwas von der langweiligen, sachlichen, beruhigenden Art, mit der Angela Merkel Probleme pragmatisch im Hintergrund klein zu raspeln verstand«. Das ist aus der Erfahrung mit der Ampel heraus sogar verständlich, wenn man deren streitbehaftetes, handwerklich minderwertiges Hin und Her als einen der Treiber für den Aufstieg der AfD betrachtet.
Es liegt aber vielleicht ein Missverständnis insofern vor, als dass die Sehnsucht nach eben einer solchen »Fortschritts-Großerzählung« viel größer sein könnte als gedacht. Die politische Rechte reüssiert gerade mit ihrem »Disruptionismus«, der erfolgreich das Gefühl bewirtschaftet, es müsse sich irgendwie alles und zwar grundlegend ändern und das am besten gleich. Dies ist reaktionäres Revolutionsgehabe, ein leerer Signifikant außerdem, der ganz unterschiedliche rechtsradikale Positionen auf sich vereinen kann.
Die Veränderungserzählungen der politischen Linken wirken demgegenüber passiv, gebremst: Entweder, weil sie tatsächlich anachronistisch geworden sind – oder weil sie aus Angst vor dem Erfolg der Rechten selbstbeschränkt werden, so dass die entsprechenden »Erzähler« als Bewahrer einer Ordnung dastehen, aus welcher die Probleme, die diese Linke beklagt, ja ganz offenbar hervorgehen.
Als anachronistisch müssen heute Veränderungserzählungen gelten, die auf eine Verlängerung eines Modus sozialer Integration im Kapitalismus hinauslaufen, der an ein Wachstumsparadigma gebunden ist, welches biophysikalische Schäden und menschliche Ausbeutung ausgelagert hat. Das gilt für das klassische sozialdemokratische Paradigma ebenso wie für linke Varianten wie eine »antifaschistische Wirtschaftspolitik«. Anachronistisch sind ebenso Umbruchserzählungen aus dem Traditionskabinett, die sich vor allem auf den Modus der Veränderung beziehen (Organisierung der Arbeiterklasse, Revolution, Antiparlamentarismus), aber kein alternatives Entwicklungsmodell innerhalb planetarer Grenzen und ohne völliges Abreißen der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion ausformulieren. Wo dies behauptet wird, steckt es in der Regel nicht drin.
Den anderen Aspekt hat Oliver Weber kurz vor dem Bruch der Ampelkoalition exzellent mit Blick auf den »nun schon seit über einem Jahrzehnt blühenden Krisendiskurses, den liberale Demokraten zur Rettung der liberalen Demokratie mit sich selber führen« aufgeschrieben. »Alles wird schlimmer – aber alles muss auch ungefähr so weiterlaufen, wie es jetzt läuft.« Webers Thema war, vereinfacht gesprochen, der einerseits immer drastischer, immer sorgenvoller beklagte Aufstieg der radikalen Rechten: auf die Beschreibung der Katastrophe folge »ein retardierendes Moment«. Die »Krise wird gesehen und von Wahl zu Wahl in noch dunkleren Farben gemalt, aber die diskutablen ›Alternativen‹ bewegen sich, wenn sie nicht völlig abstrakt bleiben, nichtsdestotrotz weiterhin beinahe vollständig im Rahmen des Status quo.« Die in ihr agierenden Kräfte waren »mit der gesellschaftlich-politischen Grundverfassung derart verwachsen (…), dass eine Alternative schlichtweg nicht reell vorstellbar war«.
In Anlehnung an Christian Meiers Überlegungen zur Spätphase der römischen Republik nennt Weber diese Konstellation »Krise ohne Alternative«. Sie sei in einer »bestimmten Form der Geschichtsphilosophie begründet: Je bedrohlicher die Krise der globalisierten liberalen Demokratie, desto sicherer ist man sich in ihrer Mitte, dass es sich bei ihr um die relativ beste aller noch möglichen Welten handelt. Auch wenn ein bestimmtes Ausmaß globaler ökonomischer, politischer und kultureller Integration zunehmend selbstzerstörerisch wirkt, so weiß man doch, dass da größtenteils einfach nichts zu machen ist. Es gibt keine einfachen Lösungen für komplexe Fragen, keine nationalen Antworten auf globale Probleme, kein Zurück hinter die Welt des 21. Jahrhunderts, obwohl die Fragen immer drängender, die Probleme immer gravierender und die Welt des 21. Jahrhunderts immer unhaltbarer erscheint.«
Das Problem besteht nun auf zwei Ebenen. Die erste hat mit dem Wunsch zu tun, das reaktionäre Revolutionsgehabe klein zu halten. Aber: »Kann man eine in die Krise geratene politische Ordnung dauerhaft verteidigen, indem man die Wählerschaft von ihrer geschichtlichen Alternativlosigkeit zu überzeugen versucht?« Die Empirie, siehe die Wahlergebnisse der AfD, spricht nicht eben dafür. Eher »fragen sich womöglich wachsende Teile des Elektorats, ob diese vermeintliche Alternativlosigkeit nicht eine Probe aufs Exempel verdient und die Geschichte nicht einen anderen Weg einschlagen könnte.« Die andere Ebene beschreibt Weber so: »Umgekehrt hat die ewige Wiederholung geschichtsphilosophischer Gewissheiten ungemeines Potential, diejenigen zu täuschen, die mit ihnen hantieren: Stets beschäftigt, sich von der Unausweichlichkeit einer bestimmten politisch-ökonomischen Formation zu überzeugen, übersieht man vielleicht offene Reformmöglichkeiten.«
Hier kommt nun aber eine dritte Problem-Ebene hinzu: Die gesellschaftliche Linke in ihren unterschiedlichen Spielarten ist selbst ja nicht einmal von irgend einer alternativen politisch-ökonomischen Formation überzeugt. Jedenfalls nicht von einer, die eine wirkliche Alternative angesichts der biophysikalischen Existenzkrise ausmachen könnte. Wir wünschen uns global egalitäre, wirklich ökologische, gebrauchswertbestimmte, Freiheit ermöglichende, tief demokratische Verhältnisse. Doch das sind höchstens unterschiedliche Ahnungen, wie es anders besser sein könnte. Es gibt praktisch keine eigenständigen formativen Vorstellungen davon, geschweige von einem Paradigma der Veränderung, das erstens Aussicht auf Erfolg haben könnte und zweitens eine Alternative im Sinne Webers auch wirklich darstellen könnte.
Das gilt derzeit ganz egal, ob man nun dem »Degrowth-Kommunismus« zugetan ist oder Hoffnungen auf eine irgendwie ganz andere, grünere und gerechtere Produktionsweise knüpft. »Wir geben unserem Leitbild einer ›sozial-ökologischen Marktwirtschaft‹ ein Update«, haben die Grünen gerade auf einem Länderrat beschlossen. Offenbar haben sich die Hoffnungen auf die Vorgängerversion nicht erfüllt. Von der SPD ist in ihrer tiefen programmatischen Krise derzeit ein Blick über den Tellerrand des Bestehenden ohnehin nicht zu erwarten. Die Krise wirkt stattdessen wie ein Zugseil in die Vergangenheit, in der die Partei auf starke Bastionen unter rauchenden Schloten zählen konnte. Die quasi neu gegründete Linkspartei hat ihren Programmprozess auch noch vor sich, in dem sie unter anderem diese Frage zu beantwortet gedenkt: »Wie wollen wir in dreißig Jahren leben?« Wenn nicht vorher Einschneidendes passiert, könnte dann schon der große Kampf um Überlebenszonen ausgebrochen sein, der die jetzt schon darum laufenden Kämpfe in den Schatten stellen wird. Keine guten Voraussetzungen für sozialistische Perspektiven.
Auch die sozialwissenschaftliche Literatur ist mehr als zurückhaltend. Gerade ist in der »Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie« noch eine etwas verspätete Rezensionsdebatte zu »Verkaufte Zukunft. Warum der Kampf gegen den Klimawandel zu scheitern droht« erschienen, die das ganze Dilemma schön illustriert: Auf Jens Beckerts Befund, der aus strukturell erklärbaren Grünen keinen Ausweg aus dem kapitalistischen Anthropozän sieht, wird mit den Worten reagiert: »Was wirklich zu tun ist, um aus der Klimamisere herauszukommen, beantwortet das Buch leider nicht!«
Die Klimabewegung sortiert sich gerade neu, ein Teil sorgt sich um Solidarität in kollabierenden Zeiten – sozusagen Jens Beckert, aber mit Vokü und Plenum. Die politischen Debatten in der linken Hälfte des Feuilletons finden im sprichwörtlichen Schützengraben statt, drehen sich also um andere Fragen – so gesehen stimmt die Behauptung der voranschreitenden Militarisierung sogar: das Thema hat andere verdrängt. Über Plädoyers der individuellen Verweigerung, sich weiter am Abbrennen des Planetens zu beteiligen, wird soweit erkennbar jedenfalls nicht diskutiert.
III.
Was hat das mit Merz, der AfD und der (möglicherweise) fehlenden Großerzählung zu tun? Vielleicht das: Die radikale Rechte wird unter anderem von jenem, leider sehr stabilen Fünftel oder Sechstel der Bevölkerung getragen, die seit den frühen 1980er Jahren in Studien über die Verbreitung rechtsextremer, rassistischer, nationalistischer usw. Einstellungen auftauchen. Für deren Kern darf weiterhin gelten, was Wiglaf Droste vor inzwischen mehr als zwei Jahrzehnten einmal gesagt hat: »Niemand wählt Nazis oder wird einer, weil er sich über deren Ziele täuscht - das Gegenteil ist der Fall: Nazis sind Nazis, weil sie welche sein wollen.«
Hat deren Nazisein materielle Ursachen? Sicher, aber die sind weitaus komplexer als all die Versuche, das auf einfache Wechselbeziehungen (Arbeiterstatus, Einkommen, Abstiegsangst, Inflation) zurückzuführen. Würde eine »antifaschistische Wirtschaftspolitik« lediglich auf vollere Teller abzielen, verringerte dies die Zustimmung wohl so wenig wie es der Kurs von Merz getan hat. Die wissenschaftliche Literatur mit Hinweisen auf mögliche Treiber rechtsradikaler Zustimmung lässt ahnen, dass auch andere isolierte Lösungsversprechen nicht viel bringen würden.
Eine Alternative in dem Sinne Oliver Webers müsste also viel weiter gehen – eben auf eine andere politisch-ökonomische Formation hinauslaufen. »Alternativ« wäre eine solche aber nur, wenn sie nicht die selben Probleme bereitet: die Kosten der angestrebten Veränderungen externalisiert, über planetare Grenzen hinauswuchert usw. Denn Webers Satz, »alles wird schlimmer – aber alles muss auch ungefähr so weiterlaufen, wie es jetzt läuft«, illustriert ja nicht nur die Paradoxie des Demokratie-Krisendiskurses; er beschreibt auch ein bisher ungelöstes Problem der Planetaren Krise.
In dieser könnte eine Hauptantriebskraft für die Stärke der radikalen Rechten (und in diese Richtung partiell tendierenden andere populistischen Parteien) liegen: Der Erfolg solcher Parteien gründet heute vor allem auf der wohlstandschauvinistischen Abwehr von Veränderungen. Dass sie bisweilen im Gewand des Disruptionismus daherkommen, ändert daran nichts – Ziel ist eine fossile Vergangenheit, deren stark ausgrenzende Ordnungen (ethnisch, kulturell, ökonomisch) als »gute alte Zeit« erinnert werden. Dies verbindet klassische Rechtsradikale mit jenen indifferenten Milieus, die nichts daran finden wollen, Parteien der Niedertracht und Menschenfeindlichkeit zu wählen. Man kann hier an Zygmunt Baumans Adiaphorisierung denken, das Ausschalten der moralischen Empfindung anderen gegenüber. (Weil eine Restdämmerung von Moral in den Köpfen nachhalt, wird auch so aggressiv gegen »Moralismus« agitiert.)
Da aufgrund der Planetaren Krise der Lösungsdruck immer größer wird, wachsen aber zugleich auch die Verlusterwartungen und Verunsicherungen. Das wiederum stärkt die Attraktivität von Parolen, die ein Weiter-so in der nationalen Wagenburg versprechen. Dabei treiben sich Parteien gegenseitig voran, die Transformationskonflikte als Kulturkämpfe aufladend und auf diese Weise blockierend. Gegen die Parole »Heizungsdiktat!« ist ein Argument nicht gewachsen, das die sehr widersprüchlichen Fragen der Umsetzung und Durchsetzung nicht ebenfalls verdrängen will. Hinzu kommt die technologisch angetriebene Affektisierung (so genannte soziale Netzwerke), di den politischen Wettbewerb immer stärker in eine Konkurrenz der Bewirtschaftung von Wut verwandelt, der sich aber Parteien und Institutionen der Öffentlichkeit in einer durch Konkurrenzdruck geprägten Aufmerksamkeitsökonomie auch kaum entziehen können, solange die Prämissen dieses Wettbewerbs als »stummer Zwang« wirken.
Die dabei entstehenden Lautstärken, Übertreibungen, Verunsicherungen stärken die wohlstandschauvinistische Veränderungsabwehr, kollidieren aber zugleich auch mit jener Alltagsvernunft, die ja mehrheitlich um die komplexen Umsetzungsprobleme klimapolitischer Notwendigkeiten weiß. Nachdem man zehn Jahre ein Fünftel bis ein Sechstel der Bevölkerung zum Maßstab dafür gemacht hat, was als »besorgter Bürger« die Debatten bestimmt, zieht sich die Mehrheit langsam zurück. Die »Veränderungserschöpfung« (Steffen Mau) wächst in allen Vektoren, auch bei jenen, die den Graben zwischen (individuellem) Ändern-Wollen und (gesellschaftlich ermöglichtem) Ändern-Können gern überwinden wollen; die also eine »planetare Erwartung« an »die Politik« haben, an etwas mitwirken wollen, daraus eine bestärkende Selbstsicht beziehend. Aber sie müssen mit ansehen, dass Regierungen auf eine Weise agieren, die zu mangelnder Planbarkeit des eigenen Lebens führt. So werden soziale aber auch kulturelle Unsicherheit geschürt, so wird individuelle Verdrängung bestärkt.
Letztere wird dadurch noch befeuert, als dass die politische Bearbeitung der Planetaren Frage inzwischen nicht mehr nur abstrakte Modalitäten wie Umweltschutzauflagen für Konzerne, sondern den je eigenen Alltag, das Gewöhnte, das Selbst betrifft: Mobilität, Ernährung, Wohnen. Die »andere Seite« hat einen Punkt, wenn sie schreit »Aber in meinem Heizungskeller…« Die Tendenz zur Individualisierung in modernen, kapitalistischen Gesellschaften, in denen Selbstausdruck und Freiheitserfahrung viel mit symbolischem Konsum, materieller Distinktion zu tun haben, gehört ebenfalls zu den Faktoren, die von einer wohlstandschauvinistischen Abwehr von Veränderungen bespielt werden können. Die Naturalisierung von gesellschaftlich gemachten Verhältnissen – Industrialismus allgemein, das deutsche Wirtschaftsmodell im Speziellen, das fossile Stoffwechselregime – kommt hinzu: Es ist ja selbst bei bestem Willen nicht so einfach, sich überhaupt etwas anderes vorzustellen.
Die Frage, die bleibt: Was würde es bewirken, dieses »Andere« formulieren zu können? Für ein Ziel wie »die AfD halbieren«, mindestens, gibt es sehr viele gute Gründe. Allerdings wäre daraus nicht die Notwendigkeit einer solchen Alternative heraus zu begründen. Auch weil man damit den Fehler perpetuieren würde, sich den ganzen Tag lang an dieser zu orientieren, sie zu thematisieren, ihr also eine Rolle zuwachsen zu lassen, die sie schon aus den einfachsten menschlichen Gründen nicht haben sollte. Und um die 20 Prozent soll es – als Ausgangspunkt, als Maßstab – auch gar nicht gehen. Armin Nassehi hat mit Blick auf die abermals laufende »Brandmauer«-Debatte von der »merkwürdige(n) Überzeugung« gesprochen, »man müsse ihren inhaltlichen Bedenken und ihren Forderungen und Diagnosen entgegenkommen, um sie zu bekämpfen. Mir scheint diese Logik ebenso fahrlässig wie unreflektiert zu sein – als gebe es feststehende Meinung-/Inhaltspartikel, die in einem Raum nur falsch verteilt sind und als würden sich Meinungen/Inhalte im politischen Prozess nicht auch verändern.« Wir wissen nicht, ob sich an der Zustimmung für die AfD irgend etwas ändert, wenn in diesen »Raum« eine neue, ganz andere Option eingespeist würde. Aber man würde es auch nicht vor allem deshalb tun.
Das »Andere« ist aus sich selbst heraus begründet. Es folgt mehr noch einer »Kritik der politischen Physik« als jener der politischen Ökonomie, weil über die Einschlagsgewalt der Planetaren Krise nicht zu diskutieren ist – das Problem sind eher Fragen der Prognosegenauigkeit, der Messmethoden, der verzögerten und der noch unbekannten Wechselwirkungen. Von 2016 bis 2021, also in nur sechs Jahren, wurden global materielle Güter von einem Gewicht konsumiert, das drei Viertel des im gesamten 20. Jahrhundert konsumierten materiellen Güter entspricht. Klar, es verbirgt sich hinter dieser Zahl auch die Überwindung von Armut und Hunger in Größenordnungen. Aber was macht das planetar, was zieht das nach sich und wann – geht es nur so, und wenn ja, was würde das heißen?
Eine angemessene Reaktion auf die galoppierenden Veränderungen im Erdsystem wird auf die Umkehrung des von Weber beschriebenen Krisen-Paradox hinauslaufen müssen: Damit etwas besser wird – muss alles ziemlich wahrscheinlich ganz anders laufen, als es jetzt läuft. Ziemlich wahrscheinlich ist außerdem, dass eine Abkehr von den strukturellen Steigerungsdynamiken auch im »globalen Norden« nicht bloß »Superreiche« betreffen würde. Ziemlich wahrscheinlich ist weiterhin, dass jede Alternative ganz anders als bisher mit einer Zeitlichkeit konfrontiert ist – um die sich früher weder sozialistische noch evolutionäre Veränderungsmodi Gedanken machen mussten.
Damit wird aus der Frage nach dem »Anderen« sofort eine tagespolitische, also eine, die in ein ungemütliches Korsett gezwängt ist. Jan Schlemermeyer hat dieser Tage angesichts der AfD-Rekordwerte dazu aufgerufen, »ein progressives ›Projekt 2029‹« vorzubereiten. Die »linken« Reaktionen waren erwartbar: Regieren bäh, SPD und Grüne buh. Man könnte die Skepsis gegenüber Handlungsweisen, die zu jenen Zuständen gehören, welchen die zu beklagenden Krisen entstammen, ja durchaus für nachvollziehbar halten. Aber eine Alternative, einen umsetzbaren, durchsetzungsfähigen Weg formulieren diese Stimmen auch nicht.
Was da allenfalls an Schlagworten mitschwingt, Bewegung von unten, Arbeiterklasse usw., läuft auf eine neue Art von revolutionärem Attentismus hinaus. Der alte Reformismus sozialdemokratischer Provenienz ist an seine Grenze gestoßen, gefangen in der Fabrik, gebunden an den Konsumenten. Seine linke Variante hat sich von der Illusion der »ganzen Bäckerei« nicht gelöst, die sozialistischen Überfluss verspricht. Und der grüne Kapitalismus kann zwar Zählbares vorweisen, aber auch Energiewende und Co. verlassen die inzwischen sehr schiefe Bahn des »Immer mehr« nicht.
Und ja, mehr als ein vorsichtiges, ängstliches »müssten wir nicht mal?« kommt hier am Ende nicht. Mit Oliver Weber ist auch diese Problemdarstellung Ausdruck jener Konstellation, die Meier als »Krise ohne Alternative« bezeichnet hat. Aus ihr herauszutreten, die schon vorhandenen Fäden aufzunehmen und zu bündeln, über Suffizienz in Zeiten populär sprechen zu wollen, in denen es aus der abbezahlten Doppelhaushälfte mit den zwei SUV davor nach noch mehr verlangend herausruft: »Wir bekommen den uns stehenden Anteil nicht!«; die Wissenschaften, Ingenieurinnen und Philosophen zusammenzubringen, die mit Ideen, Weiterentwicklungen, Pfadvorschlägen den leeren Raum füllen, auf den heimlich viele starren, hoffend, dass mal jemand dieses blöde Gefühl verscheucht, man könne irgendwie nichts tun, außer so weiterzumachen wie bisher… Ist das nicht die eigentliche, die wahre »Repräsentationslücke« hierzulande?