Was soll man vom Sondierungspapier halten? Drei Perspektiven der Interpretation der Vereinbarung dominieren: haushalterische Statik, gesellschaftliche Entsolidarisierung und bröckelnde Parteiidentität.
Die erste Variante könnte man die zentristische nennen. Da geht es um »ungedeckte Buchungen und Verschiebebahnhof«. Mithin um die unter anderem von den (mit einem ziemlich langen Hebel ausgestatteten) Grünen aufgeworfene Frage, ob das Sondervermögen Infrastruktur nicht dringend ein »zusätzlich« vor den Investitionen braucht, damit nicht investive Aufwendungen aus dem Normaletat verlagert werden, um in diesem Platz für konsumtive Ausgaben aka »Klientelpolitik« zu schaffen. (Welche Klientel? Stefan Bach rechnet es vor.) Dass dies nicht bloß ein Verdacht ist, lässt sich vorrechnen – gut 40 Milliarden Euro kosten die von Union und SPD vereinbarten Mehrausgaben (etwa für Senkung der Strompreise, Ausweitung der Mütterrente, Anhebung der Pendlerpauschale usw.). Das Sondervermögen Infrastruktur gilt in dieser Sichtweise als eine Art Betrugsmanöver der künftigen Koalition. Dies führt dann zu teils recht unterschiedlichen Zweifeln – etwa verfassungsrechtlichen, angebotsökonomischen, verfahrenspolitischen… Gemeinsam ist ihnen allerdings die Unterstützung der anderen grundgesetzlichen Reformidee: die zur Ausweitung der Verteidigungsausgaben.
Eine zweite Variante setzt an der Frage der haushalterischen Statik an, stellt sich dann aber in zwei ziemlich gegensätzlichen Perspektiven vor: Infrastruktur-Schuldenbremsen-Ultras beklagen nicht nur die kreditfinanzierte Strategie als solche, sondern dass diese eine »Zeitenwende« in der Wirtschafts- und Sozialpolitik blockiere. Darunter stellt man sich mal Rezepte a la Lindner-FDP vor oder es wird beklagt, dass die Sozialausgaben immer noch zu hoch seien. Gegenüber dieser Verlängerung »neoliberaler« Merksätze aus den vergangenen Jahrzehnten stehen jene, die nicht mehr, sondern weniger gesellschaftliche Entsolidarisierung wollen. Auch sie argumentieren verteilungspolitisch, allerdings sollen die Ströme andersherum laufen: von oben nach unten.
»Auf dem Rücken der Schwächsten« werde hier verhandelt, schreibt die TAZ. Das gilt nicht nur für Erwerbslose, sondern auch für Schutzsuchende. In beiden Fällen folgen die Verhandler dem Drehbuch einer Wutbewirtschaftung, bei der auf die erzeugten Reflexe mit vorgespielter Handlungsfähigkeit reagiert wird. Mit den Komplettstreichungen des Regelsatzes für sogenannte Totalverweigerer (jetzt schon vorübergehend möglich) wird ein eingebildetes »Problem« zum Gegenstand von »notwendigem Handeln«. Nichts von Belang würde sich ändern, in Wahrheit wird bloß die Kultur des Verdachts bestärkt, irgend jemand bekomme unzulässigerweise mehr als ihm zusteht. Das ist auch das Muster bei den migrationspolitischen Vereinbarungen.
Die Parteivorsitzenden sagen im Grunde, Migrantinnen und Migranten hätten »die Polarisierung in unserem Land« verursacht, Zusammenhalt sei nur ohne sie möglich. Solche weißdeutsche Schlichtheit ist nicht nur deshalb empörend, weil auch die Rechtsradikalen so sprechen. Sondern auch, weil hier Niedertracht und Denkfaulheit eine Melange bilden, die sogar die eigenen gesellschaftlichen Interessen verlacht, Stichworte: Demografie, Arbeitskraftmangel usw. Die Pläne, Menschen in Not um bereits durchlöcherte Rechtsansprüche zu bringen, wird an Migration überhaupt nichts ändern, befeuert aber Entsolidarisierung: Den Leuten wird signalisiert, was auf dem Versuchsfeld Asyl möglich ist, könnte auch auf andere Bereiche des Sozialstaates ausgeweitet werden. »Fürchtet Euch«, ist die Losung.
Hier setzt die dritte Variante der Interpretation der Sondierungsvereinbarung an: Welche Partei hat wie viel von ihren vorherigen Ankündigungen, ihrer Tradition, den in sie gesetzten Erwartungen unter den Bus geworfen? Auch hier gibt es wieder zwei Perspektiven. Die eine erinnert an einen weit rechts ausschlagenden Wahlkampf (nicht nur) der Union und beklagt, dass »gegen Migration« noch zu wenig erreicht wurde. Unterstrichen wird dies mit der Erinnerung daran, dass viele der nun vorgestellten Pläne auch vorher schon von der SPD mitgetragen worden waren, dokumentiert etwa in Beschlüssen der Konferenz der Ministerpräsidenten der Länder oder so genannten »Sicherheitspaketen«. Oder in Äußerungen führender SPD-Politiker. Die Union sei also eingeknickt. Dito für das, was nun als soziales Füllhorn bezeichnet wird – Friedrich Merz als »Spielball einer abgewirtschafteten SPD«.
Die andere Perspektive hatte bezüglich der Sozialdemokratie noch gewisse Hoffnungen: »Wer dachte, die SPD wird die in den vergangenen Jahren stetig nach rechts gerückte CDU in Schach halten und die letzten Rechte der ohnehin entrechteten Teile der Bevölkerung bis aufs Messer verteidigen, hat sich eindeutig geirrt.« Natürlich wird auch abgewogen, ob und was die Sozialdemokraten der Unionsseite abgerungen haben – in Sachen Mindestlohn, Tariftreue, Abwehr von Rentenkürzung… Mancher meint sogar, »dass die Wirtschaftspolitik der Großen Koalition progressiver zu sein scheint, als die Wirtschaftspolitik der Ampel«.
Aber was wäre denn progressiv heutzutage? Hier setzt eine vierte Perspektive der Sondierungs-Bewertung an – besser gesagt: An dem, was den beteiligten Parteien bei ihren Gesprächen offenkundig egal war. »Von den Gefahren, die die Erderwärmung birgt, scheinen Union und SPD noch nicht gehört zu haben«, heißt es hier, auch hier werden »die spärlichen Punkte zum Klima im Sondierungspapier« kritisiert.
Allerdings wäre, kämen nun noch ein paar klimapolitische Spiegelstriche dazu, etwa um die Grünen für eine Mehrheit zur Grundgesetzreform ins Boot zu holen, die Lage nicht viel besser. Denn es ist ja nicht bloß umweltpolitisches Schulterzucken, das man mit dem Anheften von ein paar ökologischen Buttons an die koalitionspolitische Weste korrigieren könnte. Auch wäre nicht viel gewonnen, wenn die ziemlich grelle Widersprüchlichkeit noch in den Koalitionsverhandlungen korrigiert würde, hier Klimaziele zu bekräftigen, und da Pläne zu äußern, die nach allseits bekannter Ansicht dem zuwiderlaufen.
Das eigentliche Problem dieser Vereinbarung ist, was sie in einem größeren Rahmen betrachtet ausdrückt: dass da drei Parteien agieren, deren Zukunftshorizont in der Vergangenheit liegt. Die sich in einer Welt, in der es darum gehen müsste, schnellstmöglich auf einen anderen Entwicklungsweg zu kommen, an den Idealen der 1970er Jahre orientieren. Das Sondierungspapier zeigt eine Regierung in spe, die sich aus der Wirklichkeit zurückziehen möchte, weil sie die Schwierigkeiten fürchtet, die man eingehen müsste, wenn man sich dieser stellt.
Damit ist für sich genommen noch gar nichts über unterschiedliche Optionen gesagt, wie ein solches neues Entwicklungsmodell aussehen könnte. Hierüber wäre zu streiten, eine Bundestagswahl wäre dazu eine gute Gelegenheit gewesen. Aber Union und SPD haben nicht einmal eine falsche Erzählung von einem Land im Wandel, sie haben schlicht gar keine. Es wird so getan, als könne man Zustände verlängern, unter denen soziale Integration im fossil-industriellen Kapitalismus durch immer mehr Wachstum möglich war, weil die sich so eröffnenden Verteilungsspielräume zu immer mehr Konsummöglichkeiten von Individuen und Staat wurden. Ein Win-Win, das nicht einmal im national beschränkten Rahmen funktionierte, wovon die sozialen Probleme künden. Vor allem funktionierte dieser Old Deal auch früher schon überhaupt nicht in einem planetaren Rahmen, da man Folgen dieses Kompromisses einfach verdrängt, ausgelagert, exportiert hat.
»Wahlen ratifizieren im Nachvollzug entweder gesellschaftliche Grundentscheidungen, die vorher gefallen sind, oder sie sind Indizien dafür, dass es noch nicht so weit ist«, hat Georg Fülberth einmal gesagt. Die Sondierungsvereinbarung ist Zeugnis von letzterem. Es ist bei dem Zustand, in dem sich die drei Parteien befinden, weder ein Wunder, noch kann man diese politische Katastrophe damit kleinreden, dass es nun einmal so ist, wenn eine lagerübergreifende Koalition zu Kompromissen kommen muss.
Denn es ist keine lagerübergreifende Koalition, sondern hier macht sich der parteipolitische Kern der fossilen alten Bundesrepublik daran, vier Jahre vom Stillstand in den Rückwärtsgang überzugehen. Diese schwarz-rote Regierung ist das Lager der Beharrung, des Wegsehens, der Ideenlosigkeit. Ein »Don’t look up«-Bündnis, das auch etwas darüber erzählt, wie leer und ausgezehrt Parteien sind, deren große Traditionen in einer vergangenen Welt spielten.
Und so bekommen wir irgendwas mit Fusionsreaktor, Digitalsierungsblabla und Bürokratieabbau, das durch einen Ungeist des »immer feste druff auf die Asylbewerber und Arbeitslosen« zusammengehalten wird. Diese Sondierungsvereinbarung ist nicht einmal unerwartet schlimm, sie ist erwartet ambitionslos, anachronistisch, gestrig. Statt drei Mondlandungsvorhaben auszurufen, bekommen die einen billigeren Strom, während die anderen drangsaliert werden. Aber bald unbürokratisch, digital und technologieoffen!