I.
Trumps zweiter Wahlsieg, Musks Blitzkrieg gegen den Staat, das Ende des Rechts in den USA, die Münchner Sicherheitskonferenz, die gemeinsame UN-Abstimmung mit Russland, nun der »Eklat« im Weißen Haus… jeden Tag ein neuer Weltuntergang. Es fällt denen (uns), die sich darauf einen Reim machen wollen, schwerer in der neuen Zeit anzukommen, als jenen, die dieser ihren grotesk-gefährlichen Eilmarsch aufzwingen.
Das ist keine Kritik, nur eine Erfahrung. Eine subjektive zumal. Es mag anderen anders gehen. Dass man es mit der eigentlichen »Zeitenwende«, dem »Ende von« und so weiter zu tun hat, ist so richtig, wie es nicht immer zusätzlichen Erkenntnisnutzen bringt, bei jedem Akt, der diesem noch unbegriffenen Neuen entspricht, ausgerechnet diesen zum entscheidenden Knall zu stilisieren. Es rummst gewaltig, aber inzwischen offensichtlich als lang anhaltendes, lauter werdendes Dröhnen. Seit Monaten. Das immer wieder aufs neue Erschrecken, die immer länger werdende Kette an »Überraschungen«, dieses »Jetzt ist es aber wirklich so weit« entsprechen einer relativen Verarbeitungslangsamkeit, die umso mehr ins Hintertreffen gerät, je mehr die Taktgeber ihren reaktionären Disruptionismus verfolgen.
Es kommt wohl noch etwas dazu, und das hat mit der außergewöhnlichen Qualität dieses Neuen zu tun: Es ist unklar, offen, was daraus folgt, sowohl als Konsequenzen wie auch als Herausforderungen. Man hat noch keinen eingeübten Umgang damit, kann eigentlich nicht auf die Antworten im alten Raster zurückgreifen, sitzt ratlos über Theorien von vorgestern. Die wissen, was sie tun – wir müssen erst wissen lernen, was sie tun. Das fällt nicht leicht, umso schwerer ist es, weil der Druck, schneller zu sein, mit jedem »Eklat« wächst. Mitunter scheint deshalb so etwas wie eine Beschreibungseskalation in Gang zu sein. Nicht dass es unangemessen wäre, sehr drastisch, sehr groß, sehr weit, sehr anders zu beschreiben, zu urteilen, zu denken denken – aber die Begriffe, Urteile, Gedanken fühlen sich oft seltsam leer an. »Zeitenwende«? Schon wieder? »Ende des Westens«? Vom wem bitteschön? »Europa muss jetzt dies und das tun?« Muss es das und wissen wir denn schon wirklich, warum?
Weiter unten eine Auswahl an Meinungstexten, die ein bisschen zeigen könne, wie ähnlich beiderseits des Atlantiks die Lage aufgefasst wird. Wobei natürlich die Bezugspunkte der nun geäußerten Desillusionierung, der eingestandenen Ent-Täuschungen andere sind: Dort geht es oft um eine von Trump zerstörte Idee der USA und ihrem Wirken in der Welt, die schon immer mit der Realität zu kämpfen hatte. Hier steht mehr die Tatsache im Zentrum, dass man nun plötzlich ohne großen Bruder auf einem offenen Platz steht, auf dem die Zahl der gewaltbereiten Schläger zugenommen hat, und alle wissen, wie schwer es ist, darauf ohne die Faust des Bruders zu bestehen. Über die unterschiedlichen Konsequenzen ist damit noch nichts gesagt, dazu vielleicht später mehr, wenn sich die Lage nach der jüngsten »Zeitenwende« etwas sortiert hat. Zuerst aber drei interessant erscheinende Aspekte, die so nicht überall thematisiert wurden.
II.
Thomas Assheuer kramt die gute alte Konvergenzthese heraus und wendet sie neu an: Ab Anfang der 1960er Jahre wurde damit eine sozialwissenschaftliche Überlegung bezeichnet, laut der sich »die beiden Systeme« einander immer ähnlicher werden. »Weil moderne Gesellschaften denselben Anpassungszwängen unterliegen, müssten sie trotz unterschiedlicher Ausgangslage vergleichbare Lösungen entwickeln«, so bringt es Assheuer auf den Punkt. Und es sah ja auch ein bisschen danach aus: »Um Klassenkämpfe zu verhindern, sei der liberale Westen gezwungen, planwirtschaftliche Elemente einzubauen; umgekehrt müssten die verknöcherten Planwirtschaften sich zur Marktwirtschaft öffnen.«
Sollte denn nun also, auch wenn es »die beiden Systeme« nicht mehr gibt, die Konvergenzthese doch recht behalten? »Waschechte Demokratien gegen autoritäre Regime? Das ist die Welt von gestern. Mit der Wahl von Donald Trump trägt der Westen die Spaltung zwischen Freiheit und Unfreiheit in sich selbst aus.« Und wenn man die Konvergenztheorie unter heutigen Bedingungen zu Ende denke, »müsste man in tiefe Resignation verfallen. Demnach werden Gesellschaften, die dem Außendruck der Globalisierung unterliegen, sich alle in dieselbe Richtung entwickeln und in Autokratien verwandeln.«
Nils Markwardt findet einen dazu passenden Gedanken ausgerechnet bei Schimanski in einer 1986 ausgestrahlten »Tatort«-Folge und zitiert den Kommissar: »Für mich ist die ganze Welt ein großer Arsch. Und die rechte Arschbacke, das sind die Amerikaner, ja. Die linke Arschbacke sind die Russen und wir hier in Europa, wir sind das Arschloch.« Im jahr 2025 sind die Arschbacken ganz neu verteilt. »Geopolitisch zumindest scheinen Washington und Moskau nun im selben Team zu spielen, während man in London, Paris, Brüssel und Berlin konsterniert realisiert, dass der alte Kontinent aus zwei Himmelsrichtungen unter Druck gerät«, so Markwardt.
Er bemüht dann den Begriff der »psychopolitischen Identitätskrise«, in der sich Europa befinde. Warum? Viele europäische Staaten seien abgewickelte Imperien. »Ob Großbritannien, Frankreich, Italien, Belgien, Niederlande, Spanien, Portugal oder Deutschland: Sie alle verstanden sich einst als globale Großmächte, gingen bei ihren kolonialen Raubzügen über Abermillionen Leichen und teilten die Welt abwechselnd untereinander auf. Europa mag die Wiege der abendländischen Kultur sein, globalgeschichtlich war es, in der Diktion Schimanskis gesprochen, lange aber auch das ganz große Arschloch.«
Später sei der der imperiale Weltgeist Europa ausgewandert, so Markwardt unter Berufung auf Peter Sloterdijk: einerseits nach Washington, andererseits gen Osten: »Europa ist dieser Tage also mit einer schizophrenen Konstellation konfrontiert: Als postimperialer Kontinent sieht es sich in direkter geopolitischer Konkurrenz zu zwei imperialen Doppelgängern: den Trump-USA im Westen, Putin-Russland im Osten. Wie sich mit einem derartigen Druckverhältnis umgehen lässt, ohne dabei zerrieben zu werden, ist die zentrale Frage der europäischen Zukunft.«
Vielleicht erleben wir also jetzt den Moment, einen einer noch ganz anderen Konvergenz, in dem Westeuropa eine osteuropäische Erfahrung macht, die so grundstürzend ist, dass sie sehr tief prägt: Karolina Wigura und Jarosław Kuisz haben noch vor dem Washingtoner Freitag mit dem Gedanken ihres Buches »Posttraumatische Souveränität« im Kopf an die kommende Bundesregierung appelliert. »Der komplette Richtungswechsel in der US-amerikanischen Außenpolitik sollte nun auch den Deutschen vor Augen führen, was wir Osteuropäer schon lange begreifen mussten: Unsere kleinen liberalen Demokratien sind nichts als geopolitische Enklaven zwischen den Weltreichen. Natürlich fürchten Länder wie Polen, die deshalb in der Vergangenheit nicht nur einmal, sondern mehrfach von der Landkarte gestrichen wurden, eine Wiederholung dieses Schicksals. In den Hauptstädten von Staaten mit einem derart posttraumatischen Souveränitätsverständnis lautet die wichtigste Frage deshalb, auf wen man sich in dieser neuen Ordnung wirklich verlassen kann. Das sind existenzielle Anforderungen.«
Ezra Klein hat im Gespräch mit Fareed Zakaria, das vor dem Freitag stattfand, unter anderem über die Frage diskutiert, was Trumps außenpolitische-Doktrin nun eigentlich ausmache. Klein schildert da neben anderem, was in Trumps Umgebung über die regelbasierte internationale Ordnung gedacht wird. »Von den Linken gibt es schon lange Kritik, dass die USA diese Ordnung tatsächlich dominieren und sich nicht an deren Regeln halten. Wir brechen das Völkerrecht. Wir tun, was wir tun wollen, und wenden diese Regeln dann auf andere an, wenn uns nicht gefällt, was sie tun. Trumps Position ist, dass das nicht stimmt: Von allen Ländern werden die USA als das stärkste Land am meisten durch diese Beschränkungen, Regeln und Gesetze geschädigt.«
Der Gedanke scheint wegzuführen von der Außenpolitik, hin zu dem, was den Musks »Blitzkrieg« antreibt: Der antistaatliche Furor des rechtslibertären (Kettensäge) und das antibürokratische Selbstverständnis der Techno-Feudalen (CEO-Diktatur) bestimmen heute in einer derart übergeordneten Weise das Agieren des Trump-Regime, so dass selbst ewig scheinende tragende Pfeiler wie jener, dass alle Politik sich an Erhalt und Ausbau der US-Hegemonie innerhalb einer bestimmen Ordnung zu orientieren haben, weggerissen werden. Die »regelbasierte Ordnung« ist dem Trump-Denken freilich nicht als Ordnung im Sinne von Rangfolge, Raumidee usw. suspekt, sondern der Regeln wegen, weil geglaubt wird, ohne jegliche solche könnte für die Rackets, die die USA übernommen haben, noch mehr herauskommen.
Das ist auch die Anziehungskraft hinter der Neigung, von der Zakaria spricht: Trump möge Staaten, die entweder selbst sehr stark sind oder von einer starken Führerfigur beherrscht werden. Putin, Xi Jinping, der Kronprinz von Saudi-Arabien und so weiter: »Das sind die Leute, über die er mit Respekt spricht. Die konfuseren, kompromittierten, schwächeren Führer der Koalitionsregierungen in Europa findet er verantwortungslos und uninteressant.« Ein Fluchtpunkt des Trumpismus ist Herrschaft, die sich über Regeln hinwegsetzt. Gesellschaften, die aufgrund starker Regeltreue zum Beispiel lange für Entscheidungen brauchen (Demokratie) und Verfahren zum Ausgleich unterschiedlicher Interessen beachten (Kompromiss) stehen für »Fäulnis«.
III.
Sasha Abramsky spricht in »The Nation« mit Blick auf Trumps und Musks Überfall auf Selenskyjs am Freitag vom »schändlichsten außenpolitischen Spektakel in der Geschichte der USA«, von der »offensichtlich geplanten Auseinandersetzung«, einer »Hitler-Goebbels-Imitation«, der »gangsterähnlichen Regierung«, die »einen riesigen moralischen Rubikon überschritten« habe. Es sei »der Höhepunkt einer naziähnlichen Außenpolitik« gewesen, »die von der Mehrheit der GOP-Maschinerie unterstützt wird: eine Politik, in der Verbündete gedemütigt und zu unterwürfigen Vasallen degradiert werden; eine Politik, in der Demütigung zu einem bestimmenden Bestandteil der Diplomatie wird; eine Politik, in der kein Deal, kein Bündnis und kein Vertrag das Papier wert ist, auf dem er geschrieben steht, und in der moralische Werte aus der außenpolitischen Kalkulation gänzlich ausgeschlossen werden. Die NATO mag formal noch existieren, aber in der Praxis markieren die außergewöhnlichen Ereignisse von heute sicherlich das Totenglöckchen für das transatlantische Bündnis.«
Thomas L. Friedman kann kaum in Worte fassen, »was für ein Bruch dies in der amerikanischen Außenpolitik ist«, um dann die Worte zu finden: »Dies ist eine völlige Perversion der US-Außenpolitik, wie sie seit dem Ersten Weltkrieg von jedem Präsidenten praktiziert wurde. Liebe amerikanische Mitbürger, wir befinden uns in völlig unbekannten Gewässern, angeführt von einem Präsidenten, der – nun, ich kann nicht glauben, dass er ein russischer Agent ist, aber im Fernsehen spielt er ganz sicher einen.« Was Trump wirklich wolle, schreibt David E. Sanger, einen hochrangigen europäischen Protagonisten wiedergebend, sei »eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland«, so wie es Außenminister Marco Rubio offen ausspricht: dass es an der Zeit sei, den Krieg hinter sich zu lassen, um eine Dreiecksbeziehung zwischen den Vereinigten Staaten, Russland und China aufzubauen.
Bret Stephens bemüht in der »New York Times« eine historische Erinnerung: Im Sommer 1941 hatte sich Franklin D. Roosevelt mit Winston Churchill an Bord von Kriegsschiffen in der Placentia Bay auf Neufundland getroffen, um die Atlantik-Charta abzustimmen, also den gemeinsamen Grundsätzen ihrer internationalen Politik in der »Hoffnung auf eine bessere Zukunft der Welt«: Verzicht auf territoriale Expansion, Verzicht auf Gewaltanwendung, Selbstbestimmungsrecht der Völker usw. Das war die Idee des späteren Bündnisses, weniger seine Realität. Aber man denke nur, so Stephens, Roosevelt hätte stattdessen »Churchill aufgefordert, mit Adolf Hitler Frieden zu allen Bedingungen zu schließen und die britischen Kohlereserven an die Vereinigten Staaten abzutreten, im Austausch gegen keinerlei amerikanische Sicherheitsgarantien« – das wäre »wohl dem ähnlich gewesen, was Trump mit Selenskyj gemacht hat«.
Auch Masha Gessen zieht die Geschichte zu Rate: »Putin will nichts weniger, als die Welt neu ordnen«, so wie es Stalin im Jalta- Abkommen mit Churchill und Roosevelt vom Februar 1945 erreicht habe: »Putin will den Globus schon lange aufteilen. Und jetzt reicht ihm Trump endlich das Messer. Woher ich weiß, dass Putin das will? Weil er es gesagt hat.« Putin wolle nicht nur ins 20. Jahrhundert zurückkehren - er lebe bereits dort. Daher solle man den Blick auch dorthin richten, um zu begreifen, was als nächstes passieren könnte. »Genauer gesagt auf das Jahr 1938, als der britische Premierminister Neville Chamberlain, der sich für einen brillanten Verhandlungsführer und Experten in allen Dingen hielt, ein Abkommen vermittelte, das Hitler das Sudetenland, einen Teil der Tschechoslowakei, zusprach. Im Gegenzug sollte der Rest Europas vor deutscher Aggression sicher sein. Ein Jahr nach der Unterzeichnung des daraus resultierenden Münchner Abkommens marschierte Deutschland natürlich in Polen ein und der Zweite Weltkrieg begann offiziell.«
Stephens will immerhin einen »einen Lichtblick in diesem Fiasko« sehen: dass die Ukraine das Abkommen über ukrainische Mineralien nicht unterzeichnet hat, das ihm von Finanzminister Scott Bessent aufgezwungen wurde. Wenn Trump unbedingt eine Rückzahlung von Hilfen anstreben wolle, sei doch »die beste Möglichkeit die Beschlagnahme der eingefrorenen Vermögenswerte Russlands in Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern«.
David Frum bemüht sich auch redlich, dem Vorgang noch etwas abzugewinnen: »Eine falsche Freundlichkeit von Trump und Vance in der Öffentlichkeit, gefolgt von Verrat hinter den Kulissen, wäre für die ukrainische Sache viel gefährlicher gewesen… Die Wahrheit ist hässlich, aber wir müssen ihr ins Auge sehen.« Sehen solle man diese Wahrheit in der ganzen Welt, vor allem aber im zerborstenen Bündnissystem: Trump und Vance hätten den einstigen Partnern etwas gezeigt, dass das Sicherheitssystem des Westens von zwei Männern geführt wird, »denen man nicht zutrauen kann, Amerikas Verbündete zu verteidigen«. Man sei Zeuge »der Selbstsabotage der Vereinigten Staaten« geworden, deren Ex-Verbündete »brauchen dringend einen Plan B für kollektive Sicherheit«. Stephens hat da schon einmal einen Rat: »Lassen Sie die Ukrainer ihre Waffen von Dassault, Saab, Rheinmetall, BAE Systems und anderen europäischen Rüstungsunternehmen beziehen und sehen, wie das bei den ›America First‹-Anhängern ankommt.«
»Was am Freitag im Weißen Haus geschah, war eine Neuausrichtung der amerikanischen Außenpolitik – eine fehlgeschlagene Verhandlung oder ein perverses Manöver, je nach Perspektive«, so Gal Beckerman in »The Atlantic«. Tom Nichols schreibt ebendort: »Das heutige Treffen und Amerikas beschämendes Votum bei den Vereinten Nationen am Montag haben bestätigt, dass die Vereinigten Staaten nun auf der Seite Russlands und gegen die Ukraine, Europa und den Großteil des Planeten stehen.«
Natürlich sei es viel einfacher, »eine bestehende Weltordnung zu sprengen, als eine neue zu schaffen«, so noch einmal Sanger. »Es dauerte Jahrzehnte, die Regeln für das globale Engagement nach dem Zweiten Weltkrieg aufzustellen, und trotz aller Mängel erreichte das System seine Hauptziele: die Vermeidung von Kriegen der Großmächte und die Förderung wirtschaftlicher Interdependenz.« Timothy Snyder sieht Trump den Krieg wählen, die US-Seite habe »eine Ahnung davon, was sie durch ihr Bündnis mit Russland auf die Welt loslassen, und sie haben viel Lärm gemacht, um das zu verschleiern«. Eine Ausweitung der russischen Macht in der Ukraine würde nicht zuletzt zur Verwandlung aller strategischen Gewinne in strategische Verluste führen: die Ermutigung, weitere Kriege zu führen, die Normalisierung von Aggressionen. »Die US- amerikanische Billigung von Angriffskriegen führt zu globalem Chaos. Und jeder, der kann, baut Atomwaffen. Das ist ein reales Szenario für einen dritten Weltkrieg, verfasst von den Leuten, die den gestrigen Überfallversuch im Weißen Haus geplant haben.«
Snyder meint, es sei von Anfang an die Politik von Musk und Trump gewesen, »ein Bündnis mit Russland aufzubauen. Die Vorstellung, dass es einen Friedensprozess in Bezug auf die Ukraine geben sollte, war lediglich ein Vorwand, um Beziehungen zu Russland aufzunehmen. Das würde mit allen öffentlich verfügbaren Fakten übereinstimmen. Die Schuld für das Scheitern eines Prozesses, den es nie gab, der Ukraine zuzuschreiben, wird dann zum Vorwand, um die amerikanischen Beziehungen zu Russland auszubauen.«
Auch Keith Gessen kommt im »New Yorker« auf das zu sprechen, was man alles hätte wissen können, müssen, sollen: Er erinnert an die Präsentation einer Gruppe des European Council on Foreign Relations unter der Leitung von Jeremy Shapiro, der in der Obama-Regierung tätig war, im vergangenen Sommer. Darin war von »sechs Schreckensszenarien« im Bereich der Außenpolitik die Rede, sollte Trump wieder ans Ruder kommen: »Dazu gehörten die Rücknahme amerikanischer Klimainitiativen, ein teilweiser Ausstieg aus der NATO und ein hastiger, unüberlegter Gipfel in Saudi-Arabien zum Thema Ukraine. Shapiro erzählte mir im Sommer, er habe das Papier vor allem für europäische Beamte geschrieben, die nicht ernsthaft genug darüber nachdachten, was eine zweite Trump-Präsidentschaft mit sich bringen würde.«
Stefan Kornelius meint, »auch die USA erleben einen beispiellosen Niedergang ihrer Autorität und Glaubwürdigkeit. Nach dieser Szene wird kein Land mehr auf Trump vertrauen. Die USA werden zum Willkürstaat, ja: zum Schurkenstaat. Trumps Werk ist so monströs, dass man jetzt nur auf den schnellen Widerstand im Land hoffen kann.« Wolfgang Hübner sieht einen taktischen Zug: »Seit Wochen versucht Trump, sein großspuriges Wahlversprechen wahrzumachen, dass er den Krieg in der Ukraine binnen kürzester Frist beenden könne. Er hat die Komplexität des Konflikts unterschätzt; wie so oft versucht er, sich mit simplen Handlungsmustern durchzusetzen. Um nicht zu scheitern, macht er am schwächsten Punkt Druck: bei Selenskyj… Sein Deal mit Putin lautet: Wir teilen uns die Kriegsbeute. Sein Deal mit Selenskyj heißt: Halt die Klappe und sei froh, wenn nicht weiter geschossen wird.«
In der FAZ sieht Berthold Kohler »eine politische Katastrophe, für die Ukraine, für Europa und letztlich auch für Amerika. Trump, seine Leute und seine Anhänger werden das aber wohl nicht einmal dann verstehen, wenn sich die Folgen dieser bislang schwärzesten Stunde einer dunklen Präsidentschaft zeigen.« Trumps Bemerkung, »dass Putin mit Europa machen könne, was er wolle, war ernst gemeint.« Daher müsse Europa nun »sofort aufrüsten gegen Putin«. Benni Hoff kommt zumindest zum selben Vergleich wie Kohler, beide sehen eine Analogie zur TV-Show »The Apprentice«, in der Trump jahrelang beteiligt war. Was man am Freitag in aller Öffentlichkeit erleben konnte, »widerspricht allen bisherigen demokratischen Seh- und Denkgewohnheiten. Das Faustrecht, das Recht des Stärkeren, Lügen und Denunziation wurden vor den Augen der Presse und der Weltöffentlichkeit als die Trump-Doktrin der US-amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik im Umgang mit den bisherigen Partnern im westlichen Sicherheitsbündnis definiert.« Marina Klimchuk sieht es in der TAZ ähnlich: »Die Zeit ist gekommen, um eine neue Ordnung zwischen den europäischen Nationen und einer solidarischen europäischen Zivilgesellschaft zu schaffen. Dazu gehören eine maximale Entkopplung von den USA, Investitionen in Technologie, Wissenschaft und Industrie, der Aufbau einer neuen Sicherheitsarchitektur.«
In einem sehr langen Riemen glaubt Kurt Kister, das alles werde sich »zur größten Krise der Nato auswachsen«. Er erinnert an einen Lord Ismay, dem ersten Nato-Generalsekretär, zugeschriebenen Satz, es gäbe die Nato »to keep the Americans in, the Russians out and the Germans down«. Heute befände »sich Trumps Amerika auf dem Weg raus aus Europa, und Putins Russland führt Krieg in Europa.« Ohne das ernsthafte Engagement der USA müsse »sich das Bündnis grundlegend neu organisieren – vom Atomschutzschirm, den Briten und Franzosen bereitstellen müssen, über die Zahl, Ausrüstung und Stationierung von Truppen in Europa bis hin zur politischen und militärischen Planung.«
Marc Etzold ähnlich: »Die Europäer müssen die Lücke füllen, die die Amerikaner hinterlassen. Fachleute sagen, das sei kaum möglich. Den Europäern fehlten schlichtweg die militärischen Fähigkeiten… Das mag sein. Aber die Europäer müssen es versuchen. Sonst hat der freie Westen verloren.« Marc Goergen ebendort: »Wir müssen unsere Illusionen ablegen. Die USA verabschieden sich vom Westen… eine Wegmarke in der Weltgeschichte… Es scheint Monate her, tatsächlich ist Donald Trump noch keine sechs Wochen im Amt, und in dieser Zeit hat er die Weltordnung, wie sie seit 1945 gilt, auf den Kopf gestellt – eben das, was wir als regelbasiert kennen… Natürlich war vieles eher Wunsch als Wirklichkeit, auch der Westen verriet seine Ideale… Der Gedanke aber, der all das begründete, wurde nicht in Frage gestellt: Die Welt ist mehr als die Realpolitik des 19. Jahrhunderts. Und Politik ist mehr als ein Nullsummenspiel. Der Gewinn des einen muss nicht zwangsläufig zum Verlust des anderen führen. Wenn sich alle an die Regeln halten, können am Ende alle gewinnen.«
Dass Thomas Schmid ebenfalls den Westen von Trump verraten sieht, mag mancher vor allem als Botschaft in die Redaktion der »Welt« hinein verstanden haben: »Diese Party ist vorbei. Alle, die sich aus dem trumpistischen Washington eine neue Morgendämmerung von Freiheit, Freihandel und starkem politischem Gestaltungswillen auch für Deutschland versprochen haben, sollten jetzt schnell einsehen, dass sie auf ein ganz falsches Pferd gesetzt haben.« Setze sich Trump mit seinem außenpolitischen Kurs durch, »wird die Welt in Einflusszonen zerfallen, in denen nur die Großen und Starken und Angriffsbereiten das Sagen haben«.
Auch Harald Welzer graust vor Trumps neuer Weltordnung: »Einen guten Monat nach der offiziellen Amtseinführung von Donald Trump muss man feststellen, dass man es beim Handeln seiner Regierung gar nicht mehr mit dem zu tun hat, was man seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Politik verstanden hat. Denn unabhängig davon, welchem Gesellschaftsmodell und welcher Form von Staatlichkeit die internationalen Akteure sich verpflichtet fühlten, konnte man doch weitgehend davon ausgehen, dass Aushandlungen, Abkommen und Verträge die Basis für außenpolitisches Handeln waren. Dagegen steht jetzt die postpolitische Formulierung von Ansprüchen, die aus einer Position der Machtüberlegenheit an andere gestellt werden. Das ist neu, weil hier die hergebrachten Kategorien von politischer Freundschaft oder Gegnerschaft überhaupt nicht mehr greifen. Was zählt, sind Macht und Opportunität.« Wo der Multilateralismus zu sterben scheine, komme die Frage auf: »Wird die Demokratie ihm sang- und klanglos folgen?«