Zu den augenfälligen Nachwehen der ersten Regierungserklärung von Friedrich Merz kann man die Tatsache zählen, dass es keine Nachwehen gibt. Der Kanzler habe sich »vor allem auf Bekanntes und Bewährtes zurückgezogen«, »viel Ankündigung, wenig Konkretes« von sich gegeben, er »vermeidet große Pläne«. Schwarz-Rot habe »kein Projekt« und Merz »länger geredet als vorgesehen, aber auch nicht viel mehr gesagt als das, was man schon im Koalitionsvertrag lesen konnte«. Hier und da wurde an Brandts »Mehr Demokratie wagen« oder andere Politiker-Auftritte erinnert, die so etwas wie einen großen Wurf beanspruchten, einen »Ruck«, eine »geistig-moralische Wende«. Wo aber solcher Anspruch wie bei Merz fehlte, kann es auch keine Feuilleton-Debatten über weite Horizonte, große Fragen, grundstürzende Antworten geben.
Es gibt eine Pointe dabei, die bei den performativen Haltungsnoten zur Regierungserklärung beginnt. Merz’ »Gestus und seine Botschaft: eine Neuformulierung von Merkels ›Wir schaffen das‹«, hieß es da. Und woanders: »Merz klingt jetzt wie Scholz«. Das hat nicht nur mit der Weiterbeschäftigung des Chefredenschreibers im Kanzleramt zu tun, sondern noch mehr damit, dass auch die Amtsvorgänger »kein Projekt« verfolgten. Weder die eine noch der andere sind mit irgendeiner Vision hervorgetreten, ihre Regierungszeiten bleiben als Versuche in Erinnerung, unter dem Eindruck von Krisen die Vergangenheit fortzusetzen. Alles soll möglichst immer so bleiben wie es früher angeblich einmal besser war. Niemand soll in seinen Gewohnheiten gestört, nichts auf eine Weise verändert werden, die wirkliche Veränderung nach sich zieht.
»Das Volk braucht nichts zu sollen, der Staat muss alles können«, so hat das Bernd Ulrich auf Merz bezogen. Der aber ist nur weiteres Kettenglied in einer inzwischen zwei Jahrzehnte andauernden Epoche, in der die als solche gemeinhin betrachteten Aufgaben zwar immer größer, die dann zustande gekommenen Lösungen aber immer kleinteiliger wurden. Politik retardierte (sich selbst) zu einem Bringservice – was im Wahlvolk nur die Erwartungshaltung immer weiter erhöhte: Wo die einen ständig wiederholen, es müsse ums »Liefern« gehen, wird die Geduld bei den anderen immer geringer, weil das mit dem Lösen nicht so einfach geht, Widersprüche produziert – während die egoistischen Ansprüche weiter wachsen.
Es ist kein Zufall, dass die Gruppe derer, die sagt »Es geht mir wirtschaftlich (sehr) gut, aber ich bekomme (bei weitem) nicht, was mir eigentlich zusteht«, in der Kanzler-Triade Merkel-Scholz-Merz von einem besonderen zu einem allgemeinen Phänomen wurde. Wer nicht mit anstrengenden Zukunftsmöglichkeiten behelligt wird, sondern nur falschen Versprechen, es könne alles so weiterlaufen wie bisher, wird irgendwann wütend, wenn sich dann doch verstörend zeigt, dass sich das Heute und Morgen vom Gestern unterscheidet. Klima, Krise, Kriege… natürlich sorgt das für Verunsicherung, aber die als Pragmatismus verkaufte Visionsleere hat diese ja nur noch bestärkt: Wo man nicht einmal mehr einen Hoffnungsanker in der Zukunft hat, und sei es ein utopischer, fehlt bald schon jeder Haltegriff. Und das hat Folgen, auf die Politik dann wieder in der Weise reagiert, die das Problem erst hervorgerufen hat.
Zu diesen Folgen gehört ein wachsendes Lager der Niedertracht, das Wutbewirtschaftsunternehmen auf den Plan gerufen hat, welche die Kreise der »etablierten Politik« stören, worauf diese mit zwei Strategien reagierte, die beide offenbar das Gegenteil bewirken: Weder hat die Übernahme bösartiger, ausgrenzender, rechtswidriger und menschenfeindlicher Positionen, »weil es das Volk doch nun einmal will«, dessen »Rechtsruck« vermindert. Noch kann man dies von der »Brandmauer« sagen, die aber einen Kollateralschaden mit sich bringt: die Verhinderung grundlegender Richtungskonflikte zwischen den als demokratisch betrachteten Parteien. Gleichzeitig, darauf hat Bernd Ulrich hingewiesen, versucht die (auch) neue Bundesregierung, »den Epochenbruch des 21. Jahrhunderts mit den konventionellen Methoden des politischen Handwerks zu bearbeiten, aber verkündet das alles im höchsten Ton, den uns das 20. Jahrhundert hinterlassen hat«. Das »Weiter so« wird zum »Nie wieder« aufgeblasen; ausgerechent die Fortsetzung jenes Kurses, der doch irgendetwas mit der als bedrohlich betrachteten Lage zu tun haben sollte, wird zur »letzten Patrone der Demokratie« erklärt.
Womit man dann wieder bei der Visionslosigkeit wäre. »Merz’ Regierungserklärung macht einen Hohlraum sichtbar, diese Regierung der Mitte ist programmatisch leer«, so hat das Stefan Reinecke formuliert. »Dieser Regierung ist noch nicht mal eine brauchbare Selbstbeschreibung eingefallen, ›Verantwortung‹ ist kein Ziel, sondern eine Selbstverständlichkeit. Die Wählerschaft wollte keine Regierung des Fortschritts mehr, keine Politik, die fordert, steuert, anstrengend ist.« Oder Georg Diez: »Es ist nicht nur das Drama der Konservativen, dass sie nun ohne wirkliche Ideen und Projekt an die Macht kommen. Was sich dieses Land in dieser Zeit nicht leisten kann, ist Politik ohne Vision. Und harte Grenzen, Aufrüstung und mehr Polizei sind kein gesellschaftliches Projekt.«
Was wäre eins? Vielleicht sucht man erst einmal nach übergeordneten Konfliktlinien. Horst Kahrs hat die Wohlstandsfrage als einen gesellschaftspolitischen Fehdehandschuh bezeichnet, den Merz »progressiver Politik vor die Füße geworfen hat«, welche aber derzeit offenbar nicht imstande ist, diesen auch aufzunehmen. Die amtierende Regierung will »wieder zu einer Wachstumslokomotive werden, auf die die Welt mit Bewunderung schaut«, dem wird alles andere untergeordnet, weshalb die Welt in Wahrheit ganz anders auf den Ex-Exportweltmeister schaut: »Wettbewerbsfähigkeit« konkurrenziert andere nieder, Klimapolitik wird unter Wachstumsvorbehalt gestellt, was die Externalisierung von Naturschäden und Ausbeutung anderswo verlängert, auf die dann mit tödlicher Abschottung reagiert wird. Wer bewundert sowas?
Selbst wenn man diesen Wahnsinn einmal für sich stehen lässt, wird kein Schuh daraus. »Die zusätzlichen, kreditfinanzierten Staatsausgaben werden sicherlich einen Multiplikatoreffekt haben und können aus der Rezession führen. Entscheidend ist aber, ob sie – zusammen mit angekündigten Strukturreformen (Entbürokratisierung etc.) – angebotsseitig zu einer Erweiterung der Kapazität führen. Das erscheint fraglich. Soweit es um (überfällige) Ersatzinvestitionen und um die Beschaffung von Waffen geht, ist kein Kapazitätseffekt zu erwarten. Es kommt also auf (Akzeptanz für) mehr qualifizierte Zuwanderung und höheres Produktivitätswachstum (Innovation) an. Unter den neuen Bedingungen von Protektionismus und Transformation zur Kriegswirtschaft ist die Entwicklung dieser Faktoren kaum prognostizierbar. Zwingend notwendig erscheint daher ein Plan B, der davon ausgeht, dass die Wachstumsschwäche weiterhin anhält, es also nicht gelingt, den langfristigen Trend signifikant zu ändern. Was wäre dann zu tun, um äußere wie innere Sicherheit zu erhalten und eine Wohlstandsperspektive zu eröffnen? Im Koalitionsvertrag wird diese Möglichkeit nicht einmal in Erwägung gezogen«, schreibt Rudi Kurz – wenn man so will der immanente Aspekt schwarz-roter Visionslosigkeit.
Sie fahren also in die falsche Richtung und dann ist es auch noch absehbar, dass der Koalitionswagen in der Sackgasse mit einer Panne liegenbleibt. Das ist, unter Beachtung jeweiliger politischer Vorlieben, von links und grün auch anlässlich von Merz’ Regierungserklärung beklagt worden. Aber mal ehrlich: »Wir dachten immer, Konservative (Rechtspopulisten eh) seien das Problem und Linke seien auf dem Klimapolitikticket. Das ist mitnichten der Fall. Beide Glaubensrichtungen haben andere Prioritäten. Auch Teile der Grünen haben übrigens andere Prioritäten«, meint Peter Unfried und das lässt sich schwerlich als falsch zurückweisen.
Problem eins: Die Parteien, die dem progressiven Bogen zugeordnet werden können, stecken aktuell in Selbstfindungsprozessen, die gerade erst begonnen haben.
Problem zwei: Für die übergeordnete Frage, was heute noch progressiv sein kann, zeichnen sich noch kaum Antworten ab.
Problem drei: Die Suche nach diesen ist womöglich falsch fixiert, weil es im Grunde darum gehen müsste, sich vom Begriff »progressiv« zu verabschieden. Nicht in der Weise, die linke Liberalismusverachtung oder sektiererische Zentrismuskritik im Sinn haben mögen. Sondern weil in »progressiv« auch »fortschreitend, zunehmend, sich vergrößernd« stecken – und das ist im Sinn einer Kritik der politischen Physik die ganz falsche Richtung.
Zu den Parteien. Nach einem halben Jahr im Vorsitzendenamt bei den Grünen stehen Franziska Brantner und Felix Banaszak »schon unter Beobachtung«, kann man jetzt lesen. Was da beobachtet wird? »Von Vertrauensverlust ist da die Rede, von Streit und Flügelkämpfen.« Man könnte sagen: Normal beim Übergang von der Regierung zur Opposition, nach dem Abschied von stark prägenden Figuren, angesichts einer Wahlniederlage, der die Erwartung von »Erneuerung« folgt. »Tatsächlich gibt es zwar interne Strukturdebatten, doch auch erfahrene Strategen in der Partei wundern sich, dass Banaszak und Brantner bislang keine Positionsaufschläge und auch keine gemeinsamen Gastbeiträge verfasst oder Interviews gegeben haben.« So bleibt es bisweilen beim Beschluss des Länderrats, der Regierungszeit und Wahlkampf kritisch reflektiert, viel Organisationsfragen beinhaltet, aber auf der programmatischen Seite recht blank ist: Man nehme sich vor, »zukunftsweisende Konzepte auszubuchstabieren«, plane für das »Leitbild einer ›sozial-ökologischen Marktwirtschaft‹ ein Update«.
Die SPD ist zwar in der Regierung, aber als was sie dort agieren will, soll auch hier erst noch ausgearbeitet werden. Auch hier wieder Abschied von prägenden Figuren, Erwartung von »Erneuerung« angesichts einer Wahlniederlage. Eine Autorengruppe hat einen ersten Bericht vorgelegt, »mit zahlreichen Neuerungs- und Ideenvorschlägen, die sich vor allem mit der inhaltlichen Erneuerung beschäftigen«, wie hier geschildert wird. Der Sozialdemokratie fehle »eine überzeugende Vision einer fairen und solidarischen Gesellschaft, die im öffentlichen Diskurs untrennbar mit ihr verbunden ist«, wird hier aus dem Papier zitiert. Was Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität unter gegenwärtigen Bedingungen bedeuten, müsse neu ausbuchstabiert werden. »Ein kohärenter und überzeugender Gesellschaftsentwurf« sei nötig, »wenn eine Partei keine eigene Vision gesellschaftlicher Gestaltung verfolgt, wird sie häufig zum reinen Objekt«. Die SPD soll eine »Zukunftsvision 2040« erarbeiten, hat also derzeit keine.
Ansonsten auch hier: viel Organisationsfragen. Die Sozialdemokratie möge »mehr Bewegungspartei statt Funktionärsapparat« werden, die Stärkung der Ortsvereine sei wichtig, eine bessere Fehlerkultur, ein Ende des »Bürokratie- und PR-Sprech in der SPD«, die Rolle der Parteischule müsse wieder gestärkt werden, lokal sollen konkrete Hilfen wie Mieter- oder Sozialberatung ausgebaut werden, »die SPD muss selbst wieder gesellschaftliche Dienstleisterin werden«.
Das klingt ziemlich nach dem, was auch in der Linkspartei diskutiert wird. Der zentrale Beschluss des vergangenen Parteitags, der in der öffentlichen Wahrnehmung ziemlich in den Hintergrund getreten ist, beschreibt ja auch vor allem einen Selbstfindungsprozess, der erst am Anfang steht. Anders als SPD und Grüne hat die Linke zwar mit einem überraschenden Wahlerfolg zu tun, was Programmfrage (bis 2027) und Organisation einer durch Neueintritte faktisch neu gegründeten Partei angeht, muss der Weg erst gegangen werden.
Viel ist von Kampagnenfähigkeit und Fokus die Rede, die Linke ahnt aber, dass »neben den inhaltlichen oder kommunikativen Schwerpunkten auch weitere Themen bearbeitet werden« müssen »wie Gesundheit und Pflege, Klima, ökologische Transformation, Steuern, Medien und Bildung sowie nicht zuletzt auch linke Wirtschaftspolitik oder die europapolitische Einbettung vieler Bereich«. Die Partei will »Orientierung bieten, Perspektiven entwickeln und aufzeigen, überzeugen und konkrete politische Konzepte vorschlagen«. Dazu sollen »visionäre Ideen und Lösungen« formuliert werden, von denen zwar Grundzüge bekannt sind – etwa: »wir brauchen eine bessere Form des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens untereinander aber auch im Einklang mit der Natur«.
Mit den planetaren Aporien und globalen Widersprüche von nationaler Verteilungspolitik, ressourcenintensivem Infrastrukturausbau sowie mit den stofflichen Pointen linker Veränderungsziele will man sich auf der »Schiene zum sozial-ökologischen Umbau und solidarischen Wirtschaften«, die beim »anstehenden Diskussionsprozess zum Grundsatzprogramm« aufgemacht werden soll. Dort sollen dann »planetare Grenzen, Konzepte und Praktiken solidarischen Wirtschaftens und linke Perspektiven darin eine zentrale Rolle spielen«.
Zur Sprache kommen müsste dann auch, was mit Klassenkampf-Rhetorik oder der Abschaffung des Superreichtums allein nicht zum Verschwinden gebracht werden kann: dass die Lebensweise, die hierzulande nicht nur die obersten 1% pflegen, weder fortgesetzt noch verallgemeinert werden kann.
Noch einmal Horst Kahrs in seiner nicht gehaltenen Erwiderungsrede auf Merz’ Regierungserklärung: »Die Erdwissenschaften haben uns vorgerechnet, was das für die Bewohnbarkeit und die Ressourcen der Erde bedeuten würde. Wenn denn nicht mehr alle so leben können wie wir, wenn unsere Konsum- und Lebensweise aber als die mit dem größten Wohlstand gilt und daher die für alle erstrebenswerteste von allen Lebensweisen ist, dann haben wir damit zu rechnen, dass trotz aller Hürden Menschen kommen und bei uns auch ihr Glück machen wollen. Weil es aber bei dieser Lebensweise nicht für alle reichen wird, breitet sich eine Verteidigungshaltung aus. Wir schotten ab, weisen zurück, begeben uns in Abwehrstellungen, verschanzen, was wir haben; zunächst gegen die da draußen, und dann auch gegen die, die innerhalb unser Gesellschaft nicht mithalten können, danach gegen die, die sozial in ›unsere Position‹ aufsteigen wollen, ein besseres Leben erstreben.«
Wachstumskurs, alte Wohlstandsillusion und ihre politischen Folgen. Hier liegt die eigentliche Richtungsentscheidung. Mehr von allem, aber gegen die anderen? Oder eben: »Weniger wagen«. Weil wir ohnehin in eine Zukunft hineinlaufen, in der nicht mehr die Verteilung von Übererträgen das politische Kerngeschäft sein wird, sondern die Verteilung von Verlusten. Weil hierfür nicht nur »Lösungen« gefunden werden müssen, sondern auch so etwas wie eine neue, planetare Anthropologie, die den normativen Rahmen setzt für andere Ideen von Wohlstand, von Arbeit, von Gleichheit.
»Wird sich jemals eine assoziierte Handlungsfähigkeit herausbilden, die von der Interpretation der Existenz, ja Überlebensprobleme der Menschen zu veränderndem Handeln kommt und darin die ›gesellschaftliche Menschheit‹ konstituiert?«, hat Wolfgang Fritz Haug vor einem Vierteljahrhundert in seinem HKWM-Eintrag zu Marx’ 10. Feuerbachthese gefragt. Wäre das »Progressiv«? Nein, falsche Frage. Nochmal Peter Unfried: »Progressiv klingt gut, ist aber längst ein Traditionsbegriff geworden, der aus einer Welt stammt, die es nicht mehr gibt.« Oder sagen wir besser: die anachronistisch geworden ist als Zustand. Es ist eine Welt, in der alles immer »fortschreitend, zunehmend, sich vergrößernd« sein muss, eine Welt der »nostalgischen Progressiven«.