I.
»Sollen die Grünen verboten werden?« Unter dieser Überschrift intervenierte 1984 Richard Stöss kritisch in eine seinerzeit schon etwas länger wabernden Debatte unter konservativen Staatsrechtslehrern. Diese wollten allerlei an der noch recht neuen Partei als mit dem Grundgesetz unvereinbar betrachten. Es ging unter anderem um das basisdemokratische Selbstverständnis, die Idee des imperativen Mandats, die von den Grünen praktizierte Rotation, ihre Idee, sich gegen hohe Abgeordnetendiäten auf einen Facharbeiterlohn zu beschränken, die Forderung nach atomwaffenfreien Zonen in der Bundesrepublik oder grünes Dafürhalten pro ziviler Ungehorsam.
Die versuchte »verfassungsrechtliche Ausgrenzung«, vermutete Stöss damals, ziele gar nicht »auf die unmittelbare rechtliche Behinderung ihrer Aktivität, sondern auf die Diskreditierung ihrer politischen Zielvorstellungen und ihres Selbstverständnisses«. Die Grünen repräsentierten Kritik »an den bestehenden Strukturen und Werthierarchien, insbesondere an der autoritär-etatistischen Wirklichkeit der bundesdeutschen Demokratie«. Und dies finde »wachsenden Zuspruch in der Bevölkerung«. Wer dagegen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit mobilisiere, versuche nicht nur Wählerinnen, potenzielle Bündnispartner und die Öffentlichkeit ganz allgemein zu verunsichern. Es handele sich auch um »eine Art Selbstverteidigung« jener, »die den Status quo des ›repräsentativen Absolutismus‹ (Wolf-Dieter Narr) in aller Regel rechtfertigen«.
Uwe Wesel hatte schon im Jahr zuvor eine »Aufforderung zur Einmischung« formuliert, »sich mit dieser wissenschaftlichen Diskussion geistig auseinanderzusetzen. Herrschende Meinung kann man auch von außen beeinflussen. Es geht uns alle an«. Dies umso mehr, so Stöss weiter, als dass die Bemühungen um eine juristische Ausgrenzung der Grünen »zumeist politisch begründet werden, mit dem Argument nämlich, dass den vermeintlich zunehmenden Krisenerscheinungen der parlamentarischen Demokratie rechtzeitig und entschlossen mit rechtlichen oder rechtspolitischen Mitteln begegnet werden müsse«. Das sei aber gleich dreifach falsch: Erstens seien die Grünen und die sie tragenden Neuen Sozialen Bewegungen gar nicht Verursacher der Krise, sondern »Ausdruck von politischer Unzufriedenheit in der Bevölkerung«, die andere Gründe habe. Hier werde also zweitens der Bote »für die schlechte Botschaft verantwortlich« gemacht. Und drittens erinnerte Stöss daran: »Erfahrungsgemäß wächst die Opposition gegen das System, wenn sie sich nicht innerhalb des Systems artikulieren kann.«
Warum dieser kleine historische Ausflug? Eigentlich war es nur ein unbeabsichtigter Beifang auf der Suche nach etwas anderem. Und natürlich sollen hier keine Gleichsetzungen vorgebracht werden. Aber der Umgang mit den Grünen damals ist ja nicht das einzige Beispiel dafür, dass Entwicklungen auf dem Feld der parteipolitischen Repräsentation, die gesellschaftlich komplexe Ursachen haben, auf politisch-juristische Sanktionsneigung stoßen. Das kann man auch sagen, wenn man dieses Vorgehen ganz grundsätzlich unterschiedlich beurteilen möchte – je nachdem, ob sie gegen links oder rechtsradikale Kräfte gerichtet ist. Es ist ein gravierender Unterschied, wenn Leute heute wegen als »marxistisch« angesehener Zitate Berufsverbot bekommen, oder wenn eine Verbotsdebatte über eine Partei geführt wird, die nicht nur wider das Grundgesetz agieren, sondern gleich eine ganze andere Ordnung anstreben. Das war die erste Assoziation. (Und ein bisschen muss man natürlich auch an den aktuellen Furor gegen die Zivilgesellschaft denken, in dem ja auch der Vorwurf mitschwingt, diese stünden eigentlich nicht mehr auf verfassungsmäßigem Boden, wenn sie mal gegen Merz’ CDU demonstrieren.)
Die zweite Assoziation läuft darauf hinaus, was die Grünen heute sind. Und nein, es geht nicht um eine dieser Hö-hö-Analysen, bei denen die immergleichen Vorwürfe erhoben werden: sich von ihren Ursprüngen wegbewegt, Anpassung, Entwicklung nach rechts usw. Das mag man so sehen, aber der Abgleich von aktuellem Agieren mit vergangenen Grundsätzen läuft immer auf ein methodisches Problem: Es steckt darin ja die Behauptung, man könne mit den Positionen von gestern in einem grundlegend veränderten Heute die als richtig erachteten Schlussfolgerungen für morgen ziehen. Anders gesprochen: Dass die Grünen heute eine andere Partei sind als zum Beispiel 1984 kann für sich genommen überhaupt kein Grund für politische Kritik sein, einfach weil nicht mehr 1984 ist. Will man die Grünen kritisieren, sollte man heutige Maßstäbe anlegen. Dann bleibt sicher noch genug übrig.
Was diese Maßstäbe sein können, wird natürlich umstritten bleiben. Weil es kein Institut zur Normung dessen gibt, was links ist. Auch wenn sich viele so betragen. Auch innerhalb der Grünen gibt es Kontroversen darüber. Man kann es gerade wieder beobachten. Während auf der Vorderbühne versucht wird, stolperfrei durch den tagespolitischen Hindernisparcours (Verteidigungsausgaben, Sondervermögen, Schuldenbremse, demokratiepolitische Fragen der Inanspruchnahme alter Bundestagsmehrheiten) zu kommen, spielt sich im Hintergrund ab, was sich immer abspielt nach Wahlen, zumal nach solchen mit schlechterem Ergebnis: Es wird über »Neuaufstellung« diskutiert, was immer eine Mehrfronten-Angelegenheit ist, da verschiedene Logiken, sich auf dieses Neu zuzubewegen, überkreuz geraten können – konkurrierende innere Ambitionen, alternative Wie-kam-es-dazu-Interpretationen und unterschiedliche äußere Erwartungen. Siehe oben. Von Hö-hö über Huuh bis Hoffnung.
II.
Von weiter links aus kann man eigentlich kein Interesse an schwachen Grünen haben, bei allen Differenzen. Oft werden von der Konkurrenz politische Erwartungen adressiert, die darauf hinauslaufen, dass die jeweils andere Partei genauso werden soll wie man sich selbst gern sieht. Auch in der Wählerschaft wirkt dieser Mechanismus. Man kann dafür als Hinweis die Entwicklung des – tja, schon dünnes Eis: linken Parteienspektrums seit 1990 vorschlagen. Ist man bereit, dazu SPD, Grüne und Linke sowie deren Voräuferorganisationen zu zählen, und nimmt man den kumulierten Zweitstimmenanteil der drei Parteien bei den Bundestagswahlen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Wahlberechtigten, weil dieser besser über die Mobilisierungsfähigkeit Auskunft gibt, kommt man zu folgenden Ergebnis:
Unter der wahlberechtigten Bevölkerung ist der Anteil derer, die bereits sind, SPD, Grüne oder Linken die Zweitstimme zu geben, 2025 etwa so hoch wie 1990: ungefähr 30 Prozent. In den 1990er Jahren erhielt dieses Spektrum vorübergehend mehr Zustimmung - 1994 votierten gut 37 Prozent der Wahlberechtigten für eine der drei Parteien, 1998 fast 43 Prozent. Das Ende von Rot-Grün war zugleich da Ende dieser vorübergehenden Plateau-Phase. Schon 2009 lag der gemeinsame Zweitstimmenanteil der mehr oder weniger linken Parteien wieder knapp unter einem Drittel (2009: 31,8% - 2013: 30,2% - 2017: 29,2%). Auch 2021 kam man zusammen gerade auf gut 34%. Inzwischen ist man wieder bei 30 Prozent.
Auch wenn es bei den offiziell gezählten Zweitstimmenanteilen immer mal wieder parlamentarische Mehrheiten von diesem Spektrum gab oder hätte geben können, blieben die gesellschaftlichen Mehrheitsverhältnisse dahinter zurück. Meist deutlich. Schon länger. Das eröffnet eine etwas andere Perspektive auf das, was Rechtsruck genannt wird: Relativ gesehen handelt es sich vor allem um eine Radikalisierung von Leuten nach rechts, die schon vorher so getickt haben oder mindestens dafür offen waren, die nun aber seit längerem politisch sichtbarer repräsentiert werden. In den Worten von Elmar Brähler, den man von der Leipziger Autoritarismus-Studie kennt: »Rechtsextreme Einstellungen haben in den letzten Jahren nicht zugenommen, wohl aber der Zuspruch für rechtsextreme Parteien.« Was lange Zeit unter dem Radar lief, weil rechtsradikale Parteien nicht erfolgreich waren, was wiederum mit der Fähigkeit der »Volksparteien« Union und, in geringerem Maße der SPD zu tun hatte, diese Potenziale an sich zu binden, ist nun sichtbarer. Und natürlich ist es trotzdem gefährlicher, weil sich daraus parlamentarische Konsequenzen ergeben können.
Der zweite Aspekt, über den man angesichts der recht stabilen relativen Mitte-links-Minderheit reden könnte: die deutlichen Verschiebungen zwischen SPD, Grünen und Linken. 1990 repräsentierten die Sozialdemokraten noch 84 Prozent der kumulierten Zweitstimmen - 2025 waren es noch 45 Prozent. Bei insgesamt kaum erweiterter Zustimmung für die drei Parteien haben sich die maßgeblichen Entwicklungen zwischen ihnen abgespielt: Im Grunde sortiert sich das »progressive Lager« in der Wählerschaft jeweils um andere Themen herum neu. Dem »Hartz«-Effekt folgte Umverteilung eher zur Linken, der raumgreifenden Erkenntnis, dass der Planet abbrennt, folgte Umverteilung eher zu den Grünen. Zuletzt erfolgte wieder Umverteilung eher zur Linken, weil diese im Vergleich mit SPD und Grünen für bestimmte Wählergruppen glaubwürdiger in der Demokratie- und Migrationsfrage waren.
Die zugrunde gelegten Zahlen unterliegen natürlich deutlicher Beschränktheit, schon weil es hier »nur« um das Feld der parteipolitischen Repräsentation geht, nicht auch um schwerer messbare Dinge wie »Zivilgesellschaft« oder »Bewegung«. Sie lassen aber dennoch den vorsichtigen Schluss zu, dass Zugewinne und Abstriche unter dem Strich oft ein Nullsummenspiel waren und sind (die Umverteilung verläuft natürlich komplexer, das was »Wählerwanderung« genannt wird, nicht immer auf geraden Wegen). Das wiederum lenkt den Blick auf die Frage, warum die linken Parteien nur begrenzt fähig sind, über ihren gesellschaftlichen 30-Prozent-Stand hinauszuwachsen.
Ob die Vorschläge, die jetzt nach den Bundestagswahlen innerhalb der Parteien im Angebot sind, dazu beitragen können? Oder ist gar die Subsumtion dieser drei Formationen unter die Klammer »progressives Lager« oder »linke Parteien« überholt? Nicht in dem Sinne, dass man nun der einen oder anderen vorwirft, nicht so »links«, so »realistisch« oder so »grün« wie man selbst zu sein. Sondern mehr in dem Sinne, dass im Planetaren Paradigma erst einmal neu zu definieren wäre, es als progressiv oder links gelten kann. Die in den drei Parteien geführten Debatten sind immer sowohl als auch: Suche nach Selbstverständnis unter veränderten Bedingungen, zugleich aber auch Suche nach Allgemeinverständnis. Was sind heute die bestimmenden Konfliktachsen, was folgt daraus, wer mutet es sich selbst und den Wählerinnen zu?
III.
Nochmal kurz zu den Grünen. Ihr Parteichef Felix Banaszak, der intern moderieren muss, sagt: »Die Grünen müssen nicht einfach linker oder mittiger werden, sondern wieder grüner, und die politische Debatte prägen, statt nur auf sie zu reagieren.« Es gehe um »die Verbindung aus ambitionierter ökologischer Politik, dem Streben nach Gerechtigkeit in der Gesellschaft und Frieden und Sicherheit in Europa und der Welt«.
Das kann alles mögliche heißen, benennt aber die drei Felder, auf denen sich gerade alle neu umschauen müssen, auch im linken Lager: zuerst und alles rahmend die Planetare Frage, dann die mit ihr nicht identische, aber stark verwobene soziale Frage, und die, wiederum stark mit der ersten zusammenhängende geopolitische neue Situation. Diese wird oft entlang der Achse »demokratisch-autoritär« diskutiert, wobei etwas aus dem Blick gerät, welches das Neue der Situation womöglich viel stärker bestimmt: dass diese geopolitischen Verschiebungen entlang der Achse »solar-fossil« vonstatten gehen.
Denkt man die Herausforderungen stärker in dieser Perspektive, kommt besser zum Vorschein, dass sich »geopolitische Allianzen vor allem um die bevorzugten Energiesysteme und Ansichten der großen Machtblöcke zur Klimakrise« neu ordnen. Wolfgang Blau sieht hier ein Lager aus EU, China und einigen Golfstaaten »für neue Energien« versus USA, Russland und einige Golfstaaten »für fossile Brennstoffe. Der Kalte Krieg unserer Zeit ist ein Energiekrieg.« Christian Stöcker hat die Frontstelllung zurückgespiegelt: »Petrostaat oder Elektro-Land - was wollen wir sein?« Sicherheitspolitische Positionierungen sind heute keine Frage nur von Verteidigung, Militär usw. mehr, sondern viel eher sogar von energiepolitischer Unabhängigkeit und klimapolitischer Resilienz. »Wer Sicherheit denkt, muss Klima mitdenken«, heißt es in der aktuellen Klimarisiko-Einschätzung. Und das ist nicht schon deshalb falsch, weil Bundeswehr und BND an dieser mitgewirkt haben.
Der »Kalte Krieg unserer Zeit ist ein Energiekrieg«, so Blau. Den heißen Krieg Russlands gegen die Ukraine durch diese Brille zu sehen, könnte auch hilfreich sein. Etwa, um sich von Perspektiven zu lösen, die in der Vergangenheit feststecken. Etwa der, die Kriege Moskaus als eine Art Selbstverteidigung gegenüber einem übergriffigen Westen schönzureden. Stattdessen ließe sich der russländische Neoimperialismus als Agieren einer absteigenden fossilistischen Macht deuten, deren bisheriges extraktivistisches Reproduktionsmodell mit fortschreitender globaler Dekarbonisierung vor dem mittelfristigen Aus steht. Statt sich der schwierigen und im Inneren konfliktreichen Aufgabe einer Transformation zu stellen, die das oligarchisch-autoritäre Herrschaftsmodell gefährden könnte, werden neue extraktivistische Optionen geraubt (Rohstoffe in der Ukraine) und neue fossilistische Allianzen gesucht bzw. befördert. Das heißt auch, Einflussnahme auf die Politik anderer Staaten mit dem Ziel, dort fossilistische Kräfte zu stärken, um im eigenen Interesse Politiken der Dekarbonisierung zu stoppen oder zu verlangsamen. Es geht nicht vorderhand um die Schwächung von Demokratie, das ist eher der Hebel, damit Zustände erreicht werden, welche das Überleben der anachronistisch werdenden fossilistischen Macht Russland verlängern.
Blickt man so auf die Gesamtlage, wird man auch China nicht einfach umstandslos in den gleichen Topf werfen können, in dem, wie man jetzt oft liest, nun drei Autokratien miteinander die Aufteilung der Welt verabreden. Das heißt nicht, dass man Pekings Modell von Kritik verschont, aber wer die entscheidenden Unterschiede nicht mehr erkennen will, wird auch nicht die richtigen Schlussfolgerungen ziehen können. Man könnte dann vielleicht auch Thomas Assheuers neue Konvergenzthese anders weiterdenken, ohne dass sie auf »tiefe Resignation« hinauslaufen muss: Gesellschaften unterliegen eben nicht vordergründig »dem Außendruck der Globalisierung«, sondern dem Druck, den die Planetare Frage Tag um Tag erhöht, und der sich gegenwärtig um Dekarbonisierung und das Energiemodells gruppiert - da müssen sich eben nicht »alle in dieselbe Richtung entwickeln und in Autokratien verwandeln«. Weil es mit »solar« eine Alternative zu »fossil« gibt, dem übergeordneten Prädikator.
Der Perspektivenwechsel, den das Planetare Paradigma erzwingt, weil man einfach mit der Physik nicht diskutieren kann, hat andere Felder zum Teil ja schon erreicht. Die Transformation weg vom exportorientierten Industrialismus, Alternativen zum produktivistischen Wachstumsmodell, verteilungspolitische Dimensionen des Umbaus… die Debatte ist oft weiter als es ihr öffentlicher Widerhall erscheinen lässt. Dass die drei Parteien, von denen oben die Rede war, den Wahlkampf nicht dafür genutzt haben, diese alles rahmende Richtungsentscheidung in den Vordergrund zu stellen, hat sicher unterschiedliche Gründe. Man wird keinen davon achselzuckend hinnehmen können.
Denn was »links« oder »progressiv« heute noch sein will, muss sich mit der Kritik der politischen Ökonomie ebenso herumschlagen wie mit einer, nennen wir es: Kritik der politischen Physik. In dieser spielt, anders als je zuvor, der Faktor Zeit eine besondere Rolle. Weil diese abläuft - hin zu der Möglichkeit von Umständen, in denen man vielleicht gar nicht mehr die Frage aufwerfen kann, was »links« oder »progressiv« sein soll. Dass der SPD-Vorstand gerade ein Papier beschlossen hat, in dem zwar der Satz »Wir stellen uns politisch neu auf« vorkommt, nicht aber Worte wie »Klima« oder »Energie«, macht da nicht unbedingt Hoffnung. Aber der Prozess der »Neubestimmung der Rolle der Sozialen Demokratie im 21. Jahrhundert« soll ja erst beginnen. So wie bei den Grünen und bei den Linken die Debatten ja (hoffentlich) erst anstehen, nicht schon geführt sind.