I.
Die Produktionszeit wissenschaftlicher Tagungsbände ist oft sehr lang, und das hat in diesem Fall eine tragische Komponente: Ursprünglich sollte auch Thomas Welskopp zu »Karl Marx in der Geschichte. Entstehung und Rezeption der Marx’schen Kritik« beitragen, der Band geht auf eine Wuppertaler Konferenz von 2018 zurück. Aber Welskopp, einer der großen Gesellschaftshistoriker, dessen Lebenswerk darauf zulief, den Kapitalismus »als ein Ensemble konkreter Praktiken historisch zu spezifizieren, um ihn schließlich als rekursiven Wirkungszusammenhang menschlicher Praktiken auch systemisch zu rekonstruieren«, starb 2021. Ihm ist die von Doris Maja Krüger herausgegebene Sammlung gewidmet (Open Access).
Die drei das Buch strukturierenden Abteilungen sind mit »Verortung«, »Überlieferung« und »Handgemenge« überschrieben; es geht um die Typen der Kritik beim frühen Marx (Georg Spoo), um Adornos Philosophie (Nina Rabuza), um Marxismus in China (René Kluge und Miao Tian) und in der jugoslawischen Praxis-Philosophie (Nenad Stefanov), Marxismus im Kalten Krieg (Robert Zwarg) und um den Revisionismusstreit (Jan Gerber). Auch Gareth Stedman Jones und weitere haben zu der Sammlung beigetragen, die »in der Gesamtschau«, wie es Krüger in ihre kurzweilige Geschichte der Grabstätte von Marx in London einbettet, »einen Zugang zur Historisierung der Marx’schen Kritik« bieten sollen, »der gerade nicht darauf hinausläuft, diese in die Vergangenheit zu verbannen«.
Hier soll nur kurz der Beitrag von Marcel van der Linden angesprochen werden, weil dieser in einer gewissen Beziehung zu der »klassenpolitischen Konjunktur« steht, die seit einiger Zeit bestimmte Denk- und Organisationsbewegungen der politischen Linken trägt. Darüber, wie »die Arbeiterklasse« wählt, wie sie organisiert werden soll, wer sie rechts oder links hat liegen lassen und worin ihr übergreifendes Interesse bestehen könnte – darüber wird ja recht viel diskutiert. Und es ist wieder üblicher, dass in Parteipapieren darauf verwiesen wird, »die Gemeinsamkeiten der Klasse ins Zentrum gerückt« bzw. »den Klassenkonflikt in den Mittelpunkt gestellt« zu haben.
Dass dieser, zunächst einmal politisch-rhetorische Bezug etwa der Linkspartei hier auf diesem Kanal einmal mit dem Begriff »Schlager« verknüpft wurde, hat zu der kritischen Vermutung geführt, ich würde das »Klassenpolitische« eher nicht als Beitrag zum wahlpolitischen Erfolg der Partei in Erwägung ziehen. Zugegeben: Noch könnte ich weder das eine noch das anderem mit irgendeiner Sicherheit sagen. Was unter anderem damit zu tun hat, dass oft einigermaßen unklar bleibt, was die Kategorien sind, welche Begriffe mehr ihres Klanges wegen benutzt werden oder mit welchen organisationspolitischen Ideen das verbunden ist. Ganz zu schweigen von der empirischen Aussagekraft der Daten, die im Zusammenhang mit Wahlen erhoben werden. Zum Wort vielleicht noch: Ein Internetlexikon bezeichnet »Schlager« als »allgemein leicht eingängige«, populäre Stücke »mit oft deutschsprachigen Texten«. Das Spektrum reiche »von ernsten und sentimentalen Texten bis hin zu fröhlichen und humorvollen«. Man kann finden, dass das recht gut auf diese Debatte passt, ohne dass es generell abweisend gemeint wäre.
Aber zurück zu Marcel van der Linden der den Begriff »Proletariat« einer fundamentalen Kritik unterzieht, ausgehend vom »Ausschluss des Lumpenproletariats und der Sklaven«: »Man bekommt den Eindruck, dass Marx zuerst die doppelt freien Lohnarbeiter als das revolutionäre Subjekt auf philosophischen Grundlagen proklamierte und dann einige Argumente sammelte, die teilweise einen Ad-hoc-Charakter hatten. Das Resultat war eine Theorie der Arbeiterklasse voller empirischer und logischer Unstimmigkeiten«. Hierfür bringt van der Linden drei Argumente vor: Die meisten »proletarischen« Bewegungen zu Marx Zeiten waren gar keine des doppelt freien Lohnarbeiters, an den er gedacht hatte, sondern diese könnten vielmehr, hier beruft er sich auf Welskopp, als eine »Volksbewegung von Kleinproduzenten« charakterisiert werden. Auch die gesellschaftliche Basis der Pariser Kommune sei ähnlich gewesen. Die Rolle englischer Fabrikarbeiter wurde von Marx überschätzt.
Wiederum überschätzt, zweitens, hatte »Marx die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Proletarisierung«, während eine Unterschätzung drittens zu konstatieren ist, was »die Fähigkeit des Kapitalismus, das Proletariat zu inkorporieren«, angeht – »die politische Eingliederung des Proletariats, was zum Teil auch auf die Bemühungen der Arbeiterbewegungen zurückzuführen ist«, »die Eingliederung der Proletarier als Konsumenten« sowie die Auswirkungen technologischer Veränderungen der Arbeitsprozesse, aufgrund derer die Produktionsarbeit stark zurückging und stattdessen in den Vertriebs- und Dienstleistungssektoren zunahm.
Van der Linden endet seinen Beitrag mit dem Plädoyer, Marx’ Theorie des Proletariats »einer ernsthaften Neubewertung« zu unterziehen. »Die theoretische Abgrenzung des Proletariats hinsichtlich anderer subalterner Gruppen (die Selbstständigen und die Sklaven) ist widersprüchlich; die auf dieser Theorie basierende konkrete Klassenanalyse wurde durch empirische historische Forschung in entscheidendem Maße widerlegt, und die Vorhersage des Wachstums des Proletariats wurde durch spätere Entwicklungen nur zum Teil bestätigt.« Nötig sei wohl »eine neue Begriffsbildung vom Proletariat, die auf Einschluss anstelle von Ausschluss basiert«, etwa indem »alle Formen der marktorientierten Arbeit (einschließlich unfreier Arbeit) als Variationen der kapitalbildenden Arbeit« betrachtet werden. Oder durch Erweiterung des Konzepts durch Einbeziehung der gesamten kommodifizierten Arbeit; hierin könne dann auch ein gemeinsames Klasseninteressen aller subalternen Arbeiter hervortreten: die Überwindung der Ausbeutung durch Arbeitgeber und der erzwungenen Kommodifizierung ihrer Arbeitskraft. Und außerdem, mindestens ebenso folgenreich für die gesamttheoretische Statik: »Unstimmigkeiten wie diese zeigen, dass Marx’ werttheoretischer Ansatz, produktive Lohnarbeit zu bevorzugen, nicht gut begründet war. Eine neue Werttheorie würde damit notwendig werden.«
II.
Im Nachgang zur Bundestagswahl ist auch wieder das Thema »Class Voting« angesprochen worden, worin sich einige Fragen, etwa die der Definition oder die des gemeinsamen Interesses verbinden. Man kann da von sehr unterschiedlichen Richtungen her drangehen. André Kieserling hat unlängst an den Luhmannschen Hinweis erinnert, dass niemand »allein als Arbeiter, als leitender Angestellter, als Großaktionär vom Ausgang einer politischen Wahl betroffen« ist. »Eine Partei mag sich vor allem an ökonomische Interessen wenden, aber natürlich beträfe ihre Regierungspolitik die Wähler nicht nur als Wirtschaftsteilnehmer, sondern auch in anderen Rollen: als Autofahrer beispielsweise, als Patienten, als potentielle Opfer von Verbrechen oder als Eltern schulpflichtiger Kinder.«
Kieserling formuliert das gegen zu kurz springende Konzepte der Ökonomik vom »rationalen Nutzenmaximierer«. Aber der Gedanke könnte auch in der Diskussion über »Class Voting« einer Prüfung unterzogen werden. Eine zweite Prüfung ist methodischer Natur und hat damit zu tun, dass, wenn wir heute von »Klassen« reden, oft eine sehr wacklige Empirie dahintersteht: Die viel herumgereichten Zahlen zum »Was wählten Arbeiterinnen?« stützen sich in der Regel auf Selbstaussagen. Damit kommt zu »objektiven« Kriterien etwas Subjektives hinzu, »etwa die Verbindung zur Herkunftsfamilie, das eigene Bild der gesellschaftlichen Rollen und Bedeutung der einzelnen Schichten oder auch der Stolz auf den eigenen sozialen Aufstieg«, wie man bei Horst Kahrs nachlesen kann. »Umgekehrt lässt sich daraus auch ableiten: Wenn etwa politisch die ›Arbeiterschicht‹ angerufen wird, fühlen sich Angehörige unterschiedlicher sozialer Lagen angesprochen.«
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Linus Westheuser und Thomas Lux in ihren Studien zum »Class Voting«. Hier wurde unter anderem nach »Arbeiterklassenidentität« gefragt, die ebenso auf Selbsteinschätzung beruht, diese wurde dann aber mit einer »objektiven Klassenlage« geprüft, die am Oesch-Klassenschema anknüpft: etwa 30 Prozent gehören demnach zur »Arbeiterklasse«, über 50 Prozent bekunden aber eine »Arbeiterklassenidentität«.
Die Frage, die sich hier unter anderem stellt, ist die, warum sich diese Identitäten, Selbsteinstufungen ändern. Horst Kahrs hat die Beobachtung beigetragen, dass sich etwa die im Osten deutlich stärkere Zuordnung zur Arbeiterschicht »als sozialpsychologische Nachwirkung der ›arbeiterlichen Gesellschaft‹ (Wolfgang Engler) der DDR« deuten lasse. Die Selbstzuordnung von Lohnempfängern zur Mittelschicht wiederum verweist auf die subjektive Verarbeitung gelungenen sozialen Aufstiegs: »Auf diese Weise, nur in umgekehrter Richtung, ließe sich auch der plötzliche Wiederanstieg der Zuordnung zur Arbeiterschicht Anfang der 2000er Jahre erklären: hohe Arbeitslosigkeit, sektorale Umschichtungen und Arbeitsmarktreformen verdichteten sich zu der Wahrnehmung, doch nicht (gesichert) zur Mittelschicht zu gehören.«
Ein zweiter Hinweis von Kahrs erscheint im Lichte aktueller Debatten noch wichtiger: »Zur Selbstsicht – und damit zur Sicht auf Ungleichheit in der Gesellschaft – zählt auch, ob man der Auffassung ist, einen ›gerechten Anteil am Lebensstandard‹ zu erhalten.« Hier zeigen sich in der Vergangenheit Verschiebungen, mit denen man zur Interpretation heutiger Wahlergebnisse beitragen kann: Im Westen habe sich in Teilen ein »Es geht uns nicht gut, aber wir werden gerecht behandelt« gewandelt in ein »Es geht uns gut, aber wir bekommen nicht den gerechten Anteil«, also das, was Menschen als »mir zustehend« ansehen.
Im Osten sieht Kahrs »für alle sozialen Gruppen eine eindeutige Tendenz. Gab es 2006 nur vereinzelt Gruppen, die ihre wirtschaftliche Lage besser einschätzten als die Gerechtigkeit ihres Anteils, so galt dies 2014 für alle Gruppen und dies in einem erheblichen Ausmaß. In allen sozialen Schichten findet sich eine größere Gruppe, die von sich sagt: ›Es geht mir wirtschaftlich (sehr) gut, aber ich bekomme (bei weitem) nicht, was mir eigentlich zusteht.‹ Was in Westdeutschland vor einzelne soziale Gruppen und mit unterschiedlichen Vorzeichen gilt, ist in Ostdeutschland ein allgemeines Phänomen.«
Man solle das nicht überbewerten, aber wie Kahrs schreibt »deuten die Bewegungen im Zeitverlauf auf den Aufbau von sozialpsychologischen Spannungen und Frustrationspotentialen hin«. Wie viel von diesen Effekten drückt sich im Wahlergebnis etwa für die AfD aus? Und gibt es womöglich einen strukturellen Treiber dafür, der gerade darin liegt, dass Politik soziale oder materielle Besserstellungen für bestimmte Gruppen durchsetzt? Ralph Bollmann hat das in der FAS neulich einmal so formuliert: Was auch immer unternommen werde, »um das Gefühl erlittener Ungerechtigkeit in einzelnen Bevölkerungsgruppen zu beseitigen: Einiges spricht dafür, dass sich dann wiederum andere zurückgesetzt fühlen.«
Letzter vorläufiger Gedanke dazu: Westheuser und Lux schreiben, in einigen »Ländern sind es teils bereits absolute Mehrheiten der wählenden Arbeiter:innen, die rechtspopulistisch stimmen. Das ist ein Niveau, auf dem sich im alltäglichen Bewusstsein eine gefühlte Assoziation von Klassenzugehörigkeit und Politik verfestigt. Es gilt dann zunehmend als ›normal‹, ›natürlich‹ oder gar ›selbstverständlich‹, dass rechts wählt, wer sich selbst als Arbeiter:in versteht oder sich am unteren Pol gesellschaftlicher Hierarchien verortet.«
Die Frage ist, wie viel an dem Zusammenhang eher in umgekehrter Richtung stimmen könnte: Dass unter denen, die sich selbst als »Arbeiter« einsortieren, die AfD besonders hohe Zustimmung hat, könnte auch mit darauf zurückzuführen sein, dass die Annahme der »Arbeitereigenschaft« als »Identitätsmarker« dient, mit dem sich jene, die sich das zuschreiben, sich sozusagen das Echo der Debatte zu eigen machen, laut der der Arbeiter eben heute rechts wählt: Man sieht sich als »Arbeiter«, weil man gegen »die da oben« (allgemeiner Populismus), »die Intellektuellen« (Antiintellektualismus gegen den »Elfenbeinturm«), die »woken Urbanen« (anti-linksgrün motivierter Anti-Urbanismus) ist.
Die Frage, warum der »Identitätsmarker Arbeiter« anstatt eine tatsächliche soziale Kategorie auch in der Selbstbeschreibung zu verankern (Klasse an sich - Klasse für sich), heute verstärkt angenommen wird, um rechte politische Einstellung zu signalisieren, wäre zu klären. Wird der positive Selbstbezug dadurch erleichtert, dass mit »Arbeiter« eine gesellschaftliche Figur des »unwoken Andersseins«, des »Widerstands gegen die Eliten« und so weiter angenommen werden kann, selbst wenn man sehr sehr weit vom »objektiven Arbeiter« entfernt ist? Fast ein Drittel der »Arbeitgeberinnen« schreibt sich laut Westheuser und Lux diese Identität zu, fast die Hälfte der Kleinunternehmer, der kulturellen Experten, über 40 Prozent derer, die im Management arbeiten.
Wollen diese damit womöglich auch ihr subjektives »Zu-kurz-kommen-Gefühl« zum Ausdruck bringen, das keinen objektiven Maßstab kennt, sondern nur im Vergleich zu anderen entstehen kann – vielleicht den Flüchtlingen, die angeblich hier in Saus und Braus gehalten werden, während man selbst, in den medial-politischen Spiegel schauend, meint, erst später dranzukommen, etwa beim Arzt. Hier kommen auch bestimmte Aspekte von Leistungsideologie und damit verbundene Gerechtigkeitsempfinden ins Spiel, siehe die Debatte über das Bürgergeld: Auch hier könnte es für manchen naheliegend, ja: entlastend sein, ein durch Propaganda befeuertes »Zu-kurz-kommen-Gefühl« mit dem »Identitätsmarker Arbeiter« zum Ausdruck zu bringen: die seien ja alle faul und bekommen mehr, während man selbst »nicht den gerechten Anteil« erhält, schließlich wird doch alles teurer…
Von etwas anderer Warte her auch Armin Nassehi dazu heute in der FAZ: »Empirische Untersuchungen potenzieller Trump-Wähler vor dessen erster Amtszeit von der Berkeley-Soziologin Arlie Russell Hochschild zeigen deutlich, wie sich der gefühlte Statusverlust dieser Gruppen in politische Radikalisierung umsetzte. Das Grundgefühl ist, dass die potenziellen Trump-Wähler in ihrer prekären Selbstbeschreibung jenen ähnlicher werden, die sie zuvor verachtet haben: etwa Transferempfängern oder Erfolglosen, die es nicht aus eigener Kraft schaffen. Schuld geben sie den akademischen Eliten und deren Protegierung von Minderheiten.«
III.
Aber sind denn Statusverlust, soziale Selbsteinstufung, materielle Lebenslage immer nur »gefühlt«? Ist denn nicht, man liest es jeden zweiten Tag, mindestens die Mittelschicht wirklich am Schrumpfen? Dazu haben Jad Moawad and Daniel Oesch vergangenes Jahr eine Studie vorgelegt, die sich Beschäftigung und Einkommen nach Schichten in sechs westlichen Ländern im Zeitraum von 1980 bis 2020 anschaut. Die Ergebnisse zeige »für Frankreich, Deutschland, Polen, Spanien, Großbritannien und die USA, dass die Beschäftigung der Mittelschicht zunahm, während die der Arbeiterklasse schrumpfte. Die Mittelschicht verzeichnete in den letzten vier Jahrzehnten zudem durchweg höhere Einkommenszuwächse als die der Arbeiterklasse. Die verfügbaren Realeinkommen von Arbeiterhaushalten in Frankreich, Deutschland und den USA wuchsen um weniger als ein halbes Prozent pro Jahr, verglichen mit 1 Prozent oder mehr in der Mittelschicht. Kohortenanalysen zeigen auch, dass das Versprechen, es den eigenen Eltern besser zu machen, für die Mittelschicht galt, für die Arbeiterklasse jedoch nicht mehr galt.«
Moawad und Oesch bringen ihre Ergebnisse dann auch mit dem Wahlverhalten zusammen: »Ein Großteil der jüngsten politischen Turbulenzen in den westlichen Demokratien hat mit dem Niedergang der Arbeiterklasse zu tun. Da Märkte und Politik keine Verbesserung des Lebensstandards herbeiführten, wandten sich wachsende Teile der Arbeiterklasse Kandidaten und Parteien der radikalen Rechten zu. Angesichts schrumpfender Beschäftigungsmöglichkeiten und stagnierender Einkommen traf der wütende Widerstand dieser Parteien gegen Globalisierung, Multikulturalismus und nationale Eliten den Nerv unzufriedener Wähler aus der Arbeiterklasse.«
Doch auch hier kommt wieder das Problem des Begriffs ins Spiel, denn es gibt ja nicht nur »Knackpunkte der Definition der Mittelschicht als Gruppe mit mittlerem Einkommen«, wie die beiden Autoren schreiben. Etwa was die Abgrenzung nach unten und oben entlang von Einkommensparametern angeht oder in historischer Perspektive. Sondern eben auch bei der Arbeiterklasse, als die sich, so die Studie, »viele Menschen… noch immer« betrachten. Aber sind sie es dadurch denn schon auch tatsächlich?
Moawad und Oesch diskutieren unter anderem die Frage, warum die von ihnen zurückgewiesene These vom Druck auf die Mittelschicht »trotz fehlender Beweise so viel Anklang« gefunden hat. »Einem moralischen Argument zufolge dürfte die Stagnation der Einkommen der Arbeiterklasse viele Experten nicht allzu sehr beunruhigt haben. Es erschien nur natürlich, dass in der Wissensökonomie Arbeitnehmer mit geringer Bildung stagnierende Einkommen erleben würden. Die Wahrnehmung des Problems änderte sich jedoch, als Angestellte mit Hochschulabschluss ein verlangsamtes Einkommenswachstum verzeichneten. Für die gebildete Mittelschicht erschien der stockende wirtschaftliche Aufschwung völlig unverdient und ein gebrochenes Versprechen.« Außerdem »könnte die These vom Druck auf die Mittelschicht auch auf die Erwartungen der Menschen hinsichtlich des Einkommenswachstums zurückzuführen sein. Drei Jahrzehnte massiven BIP-Wachstums nach 1945 führten zu fest verankerten Erwartungen steigender Einkommen und Lebensstandards.«
Seit einigen Jahrzehnten hat die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums nicht nur diese Erwartung unterminiert, sondern auch die Ansicht, dass dieses Einkommen ungleich verteilt wurden: »Die Behauptung, die Mittelschicht sei abgehängt worden, trifft also zu, wenn man sie mit dem Vermögen derjenigen vergleicht, die oben stehen. Sie ignoriert jedoch völlig die Tatsache, dass in den meisten Ländern die wahren Verlierer der letzten Jahrzehnte ganz unten saßen – die Arbeiterklasse«, so Moawad und Oesch. Die Frage ist, ob hier nicht auch ein Motiv für die Übernahme des »Identitätsmarker Arbeiter« liegen könnte. Das »Zu-kurz-kommen-Gefühl« wächst am Vergleichsmaßstab des zur Schau gestellten Superreichtums weniger, die zudem über gesellschaftlichen Einfluss verfügen.