I.
Es bricht die Zeit der Viele-Punkte-Papiere an. Die Vorsitzenden der Linkspartei stellen hier vor, was sie für »Das Comeback der Linken« als ausschlaggebend ansehen. Man wolle »glückliche Umstände« und die »gesellschaftlichen Bedingungen dieses Wahlkampfs« nicht wegreden, »aber es war vor allem Ergebnis eines durchdachten strategischen Prozesses«, so Ines Schwerdtner und Jan van Aken. »Das Erfolgsrezept für das Wiedererstarken« wird so zusammengefasst: ein gemeinsamer strategischer Plan, der in seltener Einigkeit verfolgt wurde, »große Schritte im Parteiaufbau und in der organisierenden Arbeit«, »Fokus auf sehr konkrete und lebensnahe Forderungen« und eine »Kommunikationsstrategie mit klarer ›Wir-gegen-Oben‹-Position«, mit der »die Gemeinsamkeiten der Klasse ins Zentrum gerückt« worden seine. Unter den »Zehn Zutaten zum Erfolg« werden natürlich auch Haustüren, Titktok und der Kümmerer-Aspekt genannt; nicht zuletzt habe man »eine direkte und mobilisierende Sprache entwickelt«.
Mario Candeias spricht von einem »Wintermärchen«, aber nicht als Heine-Assoziation, sondern mehr als politisches Disney mit Happy End: »Wie es der Partei gelang, wieder in die Erfolgsspur zu kommen, und was das für ihre Reorganisation bedeutet.« Candeias kommt auf acht Zutaten des Erfolgs, genannt werden unter anderem »neue Gesichter, mithin ein neues Team«, wobei dann auch die »Silberlocken« erwähnt werden; auch die »klare Kommunikation«, die durch »die klare Trennung von Wagenknecht« ermöglicht worden sei. Hinzu trat: »Kampagnenfähigkeit« und Konzentration auf Themen, hier werden Miete und Lebenshaltungskosten genannt. Auch »ein guter Schuss linker Populismus« bzw. »verbindender, klassenpolitischer Populismus« habe beigetragen, überhaupt klappe es endlich mit der »verbindenden Klassenpolitik«. Nun gehe es um das »Re-Organisieren«, die »Verankerung in der Bevölkerung« müsse »weiter vertieft werden« – zur Stärkung des »Unten« in einem »Unten-Mitte-Bündnis« gehe es darum, »Protagonist*innen der Klasse zu identifizieren und gezielt aufzubauen«. Konstatiert wird überdies die Überwindung der langen Phase, in der die Linkspartei kein »strategisches Zentrum« hatte.
Das Ergebnis und sein Zustandekommen wird durch Querverweise auf eigene frühere Ratschläge positiv zurückbezogen. Candeias erwartet eine »spätneoliberale Kürzungsoffensive und Eingriffe in Arbeits-, Streik- und Sozialrechte«, dagegen »bräuchte es eine Art Doppelstrategie der Hoffnung«: eine »gesellschaftliche Volksfront«, da ein Parteienprojekt à la Rot-Rot-Grün »mit der real-existierenden SPD und den Grünen undenkbar« sei; sowie »einen offensiven und antagonistischen Pol der Hoffnung«, der »einen Rückfall der Volksfront in Politiken eines progressiven Neoliberalismus und ökologischer Modernisierung verhindert«. Eine »Transformationslinke« müsse sich nun fragen: »Was brauchen wir zum Überleben und für ein gutes Leben für alle?«
Die Liste von Titus Blome und Ann-Kristin Tlusty umfasst nur drei, eigentlich vier Punkte: »tieferliegende Gründe, die den enormen Erfolg bei der Wahl erklären«. Diese sei »plötzlich verlässlich« gewesen, Heidi Reichinneks »Auf die Barrikaden« wäre »unter normalen Umständen wohl als Revolutionsromantik weggelächelt worden«. Aber nun, »nach dem Dammbruch«, wurde es zu einem »Zeichen einer Kompromisslosigkeit, die keine andere Partei zu bieten hatte: Ausgerechnet die Linke übernahm das Argument der Verlässlichkeit.« Zweitens habe die Linke sich als »die nützliche Partei« dargestellt (das KPÖ-Moment der Kampagne). Dass »die Rhetorik des Kümmerns im Gesamtbild nicht paternalistisch erschien, ist vermutlich der entscheidenden Prise Linkspopulismus zu verdanken, für die vor allem Jan van Aken zuständig war«. Und drittens gehöre zu den »tieferliegenden Gründen« für den Erfolg der Linkspartei: »Einfach mal die Klappe halten«. Sie habe jene Themen umlaufen – »Wokeness, Waffenlieferungen, Nahost« – die sonst zuverlässig in Dramen, Krisen und Spaltungen münden.
Blome und Tlusty erwägen dann noch »einen weiteren Grund für die plötzliche Renaissance der Linken, der nichts mit klugen Wahlkampfstrategien zu tun hatte – sondern vielmehr mit dem Rest der Welt«: Ähnlich wie zu Zeiten von Schirrmachers 2011er Text »Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat« hätten »mehrere Jahre nachweislichen Rechtsrucks in der deutschen Parteienlandschaft« nun »ähnlich revitalisierend wie die Finanzkrise auf linke Politik gewirkt«. Doch nun, auch dieser Text kommt darauf zu sprechen, könnten »die alten Konflikte rund um Wokeness, Waffenlieferungen und Nahost« wieder aufbrechen.
Bernd Ulrich blickt auch nochmal auf das Gesamtergebnis und meint, »die politische Mitte« könne aus dem Wahlergebnis von Linken und AfD etwas lernen. Das läuft dann nicht, wie die Schlagzeile noch fürchten lässt, auf eine der üblichen Gleichsetzungskisten hinaus (»die Ränder gestärkt«), sondern auf einen Hinweis, der einem zuerst im Halse stecken bleibt, weil es zu leicht klingt für eine Wahl, in der Rechtsradikale verdoppelt wurden: AfD wie Linkspartei hätten »zu sich selbst gestanden, sie hatten: keine Angst«.
Die »politische Angstfreiheit« gibt es demnach in einer Nazivariante (»die eigene dunkle Seite nicht mehr zu verbergen, sondern sie zu bejahen«), die auch ermöglicht worden sei, »weil sich der antifaschistische Gestus weitgehend verschlissen hat« (Trump, Musk, Merz). Aber eben auch in einer linken Variante: In Zeiten der »Selbstbelauerung und -belagerung der Linken durch den Wagenknecht-Flügel« war die Partei »immer mit sich beschäftigt, aber nie bei sich, geschweige denn angstfrei«, so Ulrich. Das sei nun anders, aber der springende Punkt dieser: »Dass Bei-sich-Sein und Angstfreiheit überhaupt zu einem so wichtigen Erfolgsfaktor avanciert, liegt daran, dass die anderen so ängstlich und verdruckst waren, dass sie immerzu bei etwas nicht erwischt werden wollten«, was wiederum »daran liegt, dass sie tatsächlich etwas im Schilde führen: Sie alle wollten mit einer mehr oder weniger normalen Politik einen Epochenbruch managen. Sie alle – manche mehr, manche weniger – behaupteten, den Menschen die Lösungen für die immer größeren und immer zahlreicheren Probleme liefern zu können, ohne diese Menschen selbst groß behelligen zu wollen, was natürlich abwegig ist, anders gesagt: gelogen.«
Hier wird nun auch die Kampagne der Linkspartei unter die Lupe genommen: mit Anerkennung. »Das Wahlergebnis ist ein Lehrstück darüber, wie eine Partei durch kluge strategische Anpassungen und eine geschickte Kampagnenführung eine existenzielle Krise überwinden kann.« Allerdings bleibe »die Zukunft der Partei unsicher. Der Wettbewerb mit dem BSW ist noch lange nicht entschieden, und auch die langfristige strategische Ausrichtung bleibt eine Herausforderung.« Dazu wird unter anderem auf die »internen Differenzen« der Vergangenheit verwiesen.
Der FAZ-Leitartikel wendet sich ebenfalls noch einmal der »Rückkehr aus dem Totenreich« zu (irgendwo muss das prall gefüllte Riesenfass mit Fünfmark-Stücken stehen, die für jede »Auferstanden aus…« und »Auferstehung der…«-Schlagzeile zu entrichten ist). Matthias Wyssuwa widmet sich weniger dem Pol der Hoffnung als dem möglicher kommender Probleme der neuen Linkspartei, diese könne »ganz leicht wieder auseinanderfliegen«. Verwiesen wird auch hier auf frühere Kontroversen, die auch organisationspolitische Folgen hatten: Antisemitismus-Streit, Debatten um Krieg und Frieden…
Solche sprechen auch Nelli Tügel und Jan Ole Arps an, die »erste Überlegungen« unter anderem zur Lage der Linkspartei nach der Wahl in »Analyse & Kritik« vorgestellt haben. Ja, heißt es da, die Linkspartei habe »Glück« gehabt, »der Ausländer-Raus-Wahlkampf der anderen Parteien hat es ihr ermöglicht, sich in Abgrenzung davon als echte, auch konfrontativ auftretende Opposition zu präsentieren«. Auch BSW-Trennung und Tiktok werden genannt. »Einer der Hauptgründe für den Erfolg der Linken ist indes im Verhältnis zu den anderen aufgeführten Gründen nur wenig besprochen worden: die strategische Neuaufstellung nach dem Wechsel an der Parteispitze vergangenen Herbst, die einen echten Kurswechsel markiert. Statt als etwas linkere Version aller anderen Parteien aufzutreten, hat sie die Klassenfrage in den Mittelpunkt gestellt«. Sie sei so »tatsächlich als jene Partei wahrgenommen wurde, die die materiellen Sorgen und Nöte der unteren Klassen zur Sprache bringt«. Diese »klare Fokussierung« sei einhergegangen »mit einer Dethematisierung anderer Fragen«. Dazu gehöre »die verschärfte imperialistische Konkurrenz in Europa«, die der Linken noch Positionierungen abverlangen werde, »die sie teilweise erst noch entwickeln muss«.
II.
Man könnte also sagen: Laut Rezeptebuch gehört es zu den Erfolgsbedingungen der Linken, etwas nicht thematisiert zu haben, das sie nun aber klären muss, nicht zuletzt um auch künftig Erfolg haben zu können.
Das tagesaktuelle Handgemenge – Sondervermögen, Schuldenbremse, Verteidigungsausgaben – hat den Fokus längst auf letzteres gerichtet. Er war dort auch schon vor der Bundestagswahl, mindestens ins vielen sich selbst befragenden Köpfen: Per Leo hat die »Gewissensentscheidung« beschrieben, die wohl nicht wenige genau so gewälzt haben: »Es gilt zwei Güter von so großem Gewicht abzuwägen, dass man ohne Dramatisierung von einer Schicksalswahl sprechen kann. Dummerweise verläuft die Abwägungslinie mitten durch die Linke. Was ist uns wichtiger: der innere Friede und die Wiederbelebung unserer politischen Kultur? Dann spricht viel für eine Partei, deren ideologische Restglut eine programmatische Reform der linken Mitte befeuern und so der AfD die Hoheit über den politischen Diskurs entreißen könnte. Oder ist der äußere Friede so gefährdet, dass wir es uns gerade nicht leisten können, einer pazifistischen Partei weiter Aufwind zu verschaffen?«
Die Antworten fallen ziemlich unterschiedlich aus, vielleicht auch und gerade erst jetzt nach der Wahl, in der die Rolle, welche die Linkspartei durch den Wiedereinzug erlangt, nicht mehr nur eine theoretische Angelegenheit oder eine politische Hoffnung ist. Per Leo hat die linke »Wirklichkeitsbeschreibung, die mehr will als die Macht« gelobt – und zugleich ihre Selektivität kritisch beschrieben. Es gebe »Leerstellen, die auf Wirklichkeitsverweigerung hinauslaufen. Der Pazifismus der Linken war immer schon realitätsfern. Aber seit Donald Trump die Sicherheitsgarantie für Europa aufgekündigt hat, muss man ihn leider als blind bezeichnen. Sich nicht mit den Surrogaten der Bedrohung gemein zu machen, ist ehrenwert. Aber wer mit den guten Gründen für den Krieg auch die Bedingungen für einen echten Frieden ignoriert, ersetzt das Surrogat durch ein Sedativum. Machen wir uns nichts vor: Wenn die EU und Großbritannien es nicht schaffen, jetzt die Ukraine auch ohne die USA weiter zu unterstützen und auf Dauer eine glaubwürdige Abschreckung zu etablieren, wird Russland Europa destabilisieren. Dabei muss man gar nicht über Wahrscheinlichkeiten spekulieren. Bestimmte Dinge passieren allein dadurch, dass sie denkbar sind.«
Die hinter diesem Gedanken von Per Leo stehende Voraussetzung – eine Wirklichkeitsbeschreibung – wird in der Linken, auch in der gleichnamigen Partei, nicht uneingeschränkt geteilt. Man weiß nicht viel darüber, was Wählerschaft und die größtenteils ausgetauschte Basis der Linkspartei darüber denkt, welche realen Bedrohungen aus den geopolitischen Spannungsbeben der letzten Monate hervorgehen und inwieweit das praktische Veränderungen nach sich ziehen muss, um einen Punkt aus dem grundsatz-Programm der Linken zu erreichen. Dort ist als eines der »Prinzipien«, auf welche die Partei »internationalistische Politik« gründen will, genannt: »Frieden durch kollektive und gegenseitige Sicherheit, Abrüstung und strukturelle Nichtangriffsfähigkeit«. Könnte ja sein, dass die definierten Kernpunkte unter neuen Bedingungen in Widerspruch zueinander geraten.
Darüber muss man reden und sollte sich auch nicht von Begriffen wie »sicherheitspolitisches Godesberg« (Per Leo) davon abhalten lassen, die nur eine der möglichen Schlussfolgerungen markieren, aber unter Linken aufsteigende Hitze verursachen, weil für diese »Bad Godesberg« auf halber Strecke zum »Ja zu den Kriegskrediten« liegt. Aber das ist die falsche Richtung, man kommt am Ende doch nicht umhin, nach vorne zu gucken, und das tut man von einem Standpunkt des Jetzt aus. Es geht also weniger um die bekannte und auch etwas langweilig gewordene Übung, die Linkspartei an Programm-Sätzen zu messen, die schon anachronistisch klangen, als sie formuliert wurden. Oder um Äußerungen von Politikern der früheren Phasen der Partei, die weniger als politische zu deuten sind, sondern als biografische, sozusagen ein Auswendigkeitsproblem verdeutlichen: einmal gelernt kann man offenbar nicht mehr anders.
Besser wäre vielleicht also, sich über die »Prinzipien« zu streiten. Eines davon im Programm also lautet: »Frieden durch kollektive und gegenseitige Sicherheit, Abrüstung und strukturelle Nichtangriffsfähigkeit«; wobei letzte noch genauer mit »Umbau der Streitkräfte auf der Basis strikter Defensivpotenziale« beschrieben ist. Wie »kollektive Sicherheit« nach dem Ende der Pax Americana aussehen wird, ist offen, das betrifft zum Beispiel die Frage, wie weit dafür europäische Gemeinsamkeiten und dann auch Kapazitäten erforderlich, möglich, umsetzbar sind. Was die »gegenseitige Sicherheit« angeht, stellt die Zukunft der in ihrer Souveränität durch den russländischen Neoimperialismus bedrohten Ukraine unter anderem die Frage, wie diese – »gegenseitig« – gewährleistet werden kann, wenn ein Aggressor offen von der Vernichtung dieser Souveränität spricht.
Generell wäre zu diskutieren, was »Sicherheit« überhaupt bedeutet und welche Maßnahmen zu ihrer Gewährleistung nötig sind. Dieser Debatte sich zu verweigern heiße, Positionen das Feld zu überlassen, die bisher als »Militarisierung« kritisiert wurden. Reibt man sich aber an diesen, kommt man womöglich selbst zu einer der »Wirklichkeitsbeschreibung« angemesseneren Antwort. Diese könnte ja zum theoretischen Beispiel beinhalten, dass Abrüstung solcher militärischer Potenziale sinnvoll ist, die auf alte sicherheitspolitische Strategien wie »… wird am Hindukusch verteidigt« zurückgehen – während ein »Umbau der Streitkräfte auf der Basis strikter Defensivpotenziale« mindestens eine Umschichtung, womöglich aber auch eine temporäre Ausweitung der Beschaffung eben solcher Potenziale erforderlich macht.
Wie weit »Defensivpotenzial« zu fassen ist, hängt wiederum damit zusammen, was man sich unter »kollektiver und gegenseitiger Sicherheit« heute unter Linken vorstellt. Die alte Programm-Formulierung war ein leerer Behälter, nötig, sehr unterschiedliche Vorstellungen zu Fusionszeiten unter ein Dach zu bringen, wofür auf Begriffshülsen aus der Geschichte zurückgegriffen wurde – im Grunde war es ja eine Adaption der KSZE-Formel von Helsinki. Das war 1973, die Programm-Formel eine irgendwie wärmende Erinnerung an Zeiten, in denen ein militarisierter Großkonflikt diplomatisch in Bahnen gelenkt werden konnte. Aber so gut wie nichts von den seinerzeitigen Bedingungen und Umständen ist heute noch existent. Auch der größte Teil der Mitgliedschaft dürfte mit der Schlussakte und ihrer Entstehung nicht viel anfangen können, weil selbst viel später geboren.
Ob sich die Linke solche Fragen zumuten will, ist im Grunde egal – diese Fragen werden an sie gestellt. In der TAZ unterstellt Gunnar Hinck, der »Fanbase« der Linkspartei sei »die Ukraine egal«. Die Partei habe »es geschafft, sich als Friedenspartei zu inszenieren – ohne den unappetitlichen Beigeschmack der Putin-Nähe wie beim BSW.« Viele Jung-Wählerinnen hätten vor drei Jahren noch »Präsident Selenskyj auf Social Media ein Herzchen spendiert«; aber »ein drei Jahre andauernder Krieg ist offenbar zu lang für die digitale Aufmerksamkeitsspanne«. Das Votum »der neuen hippen Linken-WählerInnen« bedeute »Gleichgültigkeit« gegenüber dem Schicksal der Ukraine.
In der »Zeit« kommentiert Anastasia Tikhomirova die Lage so: Die Linke lasse »einen ehrbaren Wertekompass vermissen. Es scheint, als mache ihr Antifaschismus an der Grenze nach Osten halt. Noch immer positioniert sich die Linke gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, ein Land, das von einer imperialistischen Diktatur angegriffen wurde«. Hier zeige sich der »altbekannte, ideologische Pazifismus um jeden Preis«, sogar mit der AfD würde die Partei dafür stimmen. Tikhomirova findet einige Positionen der Linkspartei richtig, gezieltere Sanktionen gegen die Kriegskasse des Kremls, bessere Durchsetzung der Sanktionen durch die EU, Enteignung der Oligarchen, Unterstützung von Kriegsdienstverweigeren und Widerstandsbewegungen in Russland. »Doch das reicht nicht aus. Wer den Ukrainern zwar Stromgeneratoren schicken will, aber keine Abwehrraketen, um ihre Energieinfrastruktur vor russischem Beschuss zu schützen, wer ukrainische Geflüchtete aufnehmen will, aber nicht jene unterstützen, die sich entschieden haben zu bleiben und zu kämpfen – der verweigert ihnen schlicht die Solidarität.«
Jonathan Gerbig hat in der TAZ eine Replik zu Hinck formuliert: »Die Ukraine-Linie der Linken war für viele Jungwähler*innen wenig ausschlaggebend. Dabei ist die Ukraine der Generation U25 nicht gleichgültig. Sie hat sie auch nicht vergessen«. Die nun fast täglichen Vorstöße der Merz-CDU nach weit rechts und wohl auch der Faktor Trump sei für viele Jungwählerinnen am Ende maßgeblich gewesen. Diese stünden auch nicht alle »hinter dem Ende der Waffenlieferungen«; und »für die Position, dass ein für die Ukraine positives Ende des Krieges tatsächlich mehr diplomatische Bemühungen braucht«, müsse auch Platz bleiben.
Dass die »Friedensfrage«, die in den Erfolgsuntersuchungen von Schwerdtner und van Aken oder Candeias nur insofern eine Rolle spielt, als dass sie eben keine spielt, so wie man im Wahlkampf bemüht war, das Thema zu umlaufen, heißt natürlich nicht, dass das innerhalb der Partei kein Thema wäre. »In dieser Frage keine Kompromisse!«, warnt die »Kommunistische Plattform« und man muss gar nicht weiterlesen um zu wissen, welche Frage gemeint ist. Es geht wie seit 30 Jahren um den Vorwurf, immerzu würde jemand versuchen, »die friedenspolitischen Grundsätze unserer Partei zu entsorgen«.
Solche Parolen sind recht wirkungsvoll, weil sie auf den Bauch zielen, statt auf den Kopf, welcher derselben Mühe ausgesetzt werden müsste, der sich jene unterziehen, die über »Friedenspolitik nach der Zeitenwende« wirklich nachdenken (statt eine gesichtslose Büste im Traditionskabinett zu verteidigen). Man könnte ja zum Beispiel über Paul Schäfers »Wir werden Widersprüche aushalten müssen« diskutieren. Aber das will die »unsere Grundsätze«-Fraktion offenbar vermeiden, würde es doch die eigenen Schwächen zutage treten lassen.
Auch der anderswo organisierte »Kommunismus« hat sich geäußert; die Linkspartei habe »den Zusammenhang zwischen Hochrüstung und Sozialabbau verschleiert«, der Vorsitzende van Aken versuche, die »friedenspolitischen Grundsätze seiner Partei zu demontieren«. Sein Vergehen bestand für die DKP darin, sich der »Wirklichkeitsbeschreibung« vom russischen Imperialismus nicht zu versperren. In einem recht erhellenden Gespräch mit Ralf Stegner hatte van Aken kurz vor der Wahl seine Positionen zu einer möglichen Beendigung des Krieges gegen die Ukraine, den Bedingungen dazu und Fragen der Sicherheitsgarantien etwas ausführlicher dargelegt. Vor allem aber kann man das Doppelinterview als Vorführraum für die Aporieren linker Debatten zu diesem Thema ansehen. Das ist nicht als Kritik gemeint, denn mit der Kenntnisnahme der Wirklichkeit und ihrer Widersprüche fängt ja Nachdenken an: ein Stegner, der mit Wagenknecht und deren Anhängerschaft demonstriert hatte, aber das 100-Milliarden-Sondervermögen verteidigt, weil es die »Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit angeht. Das kann man sagen, ohne Befürworter von grenzenloser Aufrüstung zu sein«. Ein van Aken, der glaubwürdig gegen Diktatfrieden, für ukrainische Selbstbestimmung und so weiter spricht, aber auf eine strikte antimilitärische Position beharrt, die nicht nur mögliche Hilfen zur Verteidigung der Ukraine, sondern auch das 2022er Sondervermögen als »Aufrüstung« ablehnt.
Es geht am Rande immer auch um die Pazifismus-Frage. Tikhomirova hatte vom »altbekannten, ideologischen Pazifismus um jeden Preis« gesprochen. Im »Freitag« haben sich unlängst der Philosoph Olaf Müller und der Journalist Pascal Beucker über das P-Wort unterhalten und dabei viele Schattierungen ausgemacht: da ist von »Einsteins vernünftigem Pazifismus« die Rede, von einem »relativen Pazifismus«, einem »Ausnahme«-Pazifismus (Bertrand Russell), einem »Völkerrechtspazifismus«, einem »skeptischen Pazifismus«… diskutiert werden hier Widersprüche und Schwierigkeiten, in historischen Situationen Pazifismus »anzuwenden«. Müller meint mit Blick auf die Ukraine: »Der relative Pazifist wäre dafür, die weniger kriegerischen Elemente des Widerstands gegen Putin zu stärken, ohne ins Appeasement abzurutschen.« Beucker sieht »zwischen Verhandlungen und Waffenlieferungen zur Selbstverteidigung keinen Widerspruch«.
Man muss mit den jeweiligen Pointen nicht einverstanden sein, um zumindest zu bemerken, dass sich hier die Mühe gemacht wird, vom Einzelfall auszugehen. Wer die »friedenspolitische« Debatte der Vorläufer-Organisationen der neuen Linkspartei ein bisschen kennt, weiß um die Funktion dieses Begriffs: Jene, die außen-, sicherheits- und militärpolitische Fragen immer wieder neu, konkret auf die Besonderheiten einzelner Fälle diskutieren wollten, sind früher stets als »Bellizisten« im Wartestand verunglimpft worden, andere kuschten aus Angst vor innerparteilichem Aufruhr oder in Erinnerung verlorener Abstimmungen.
Die rigorose Abwehr, den Einzelfall zu analysieren, im Einzelfall zu entscheiden, war eine Form der Abwehr von Wirklichkeitsbeschreibung, damit aber auch eine Abkehr von Wirklichkeit. Man kann ja durchaus im Einzelfall zu jener Meinung gelangen, die andere für immer und ewig als »unsere friedenspolitischen Grundsätze« ausgeben wollen. Geht es nur um Festhalten an den Grundsätzen, wird man zuverlässig den Punkt verpassen (und darum geht es ja auch, das ist gewollt), sich mit neuen Wirklichkeiten auseinanderzusetzen. Der Verweis auf »Grundsätze« ist eines von den beiden Beinen, auf denen jede Orthodoxie steht. Zu der werden Anschauungen, die nur noch aufs Hochhalten alter Sätze bedacht sind, welchen (manchmal) Wirklichkeitsbeschreibungen zugrunde lagen, die aber nicht mehr aufrecht zu erhalten sind, es sei denn, man verbiegt sich und die Wirklichkeit.