I.
»Stalin-Büste in von Russland kontrollierter ukrainischer Stadt enthüllt«, meldete vor einigen Tagen die AFP. Kontrolliert? Den Überfallkommandos ist also eine sich »kommunistisch« nennende russländische Partei gefolgt, hat im vom Aggressor besetzten Melitopol das nach eigenen Angaben erste Stalin gewidmete Monument in den annektierten Gebieten enthüllt – genau an dem Tag, an dem in der Bundesrepublik der Befreiung vom Naziregime gedacht wird.
Einen Tag später rollte die Militärparade durch Moskau. Wobei der eigene historische Beitrag zum Sieg über Nazi-Deutschland vor 80 Jahren den dort Herrschenden Anlass bot, das Erinnern zu heutigen Zwecken zu missbrauchen: der Überfall auf die Ukraine als Fortsetzung einer »Denazifizierung«. Oder, wie es das willfährige Popsternchen Irina Dubzowa im Propaganda-Schundlied »Za nas« formuliert: »In den Fußstapfen unserer Großväter, für das Vaterland, treu und mutig, ziehen diese Jungs los.«
Der Jahrestag hat auch hierzulande erinnerungspolitische Kontroversen ausgelöst, die selbst oft aus mehreren Schichten zusammengesetzt sind und ihren Charakter erst offenbaren, wenn man hinter das Offensichtliche blickt. Der Dreh- und Angelpunkt ist dabei meist der russländische Krieg gegen die Ukraine, was denn sonst. Die Richtungen allerdings, in die von diesem aus neue Bewertungen, demonstrative Bekenntnisse, historische Einseitigkeiten, politische Lehren ausgerollt werden, sind sehr verschieden.
Darum kann und soll es hier aber nicht in der ganzen Breite gehen, sondern nur um eine, vielleicht nebensächlich erscheinende Frage: Warum spielte eigentlich in linken Kreisen etwa in den Debatten darum, wer mit welchem Recht oder eben nicht an Gedenkfeierlichkeiten teilnehmen solle dürfe, der Stalin-Hitler-Pakt kaum eine Rolle?
II.
Soweit zu überblicken haben nur Irina Scherbakowa von der antistalinistischen Menschenrechtsorganisation Memorial und der Historiker und Ex-KBWler Gerd Koenen diesen in ihren Stellungnahmen zum erinnerungspolitisch umstrittenen Gedenken überhaupt angesprochen. Die ins Exil vertriebene Scherbakowa zählt »den zynischen Hitler-Stalin-Pakt, der den Feind an die sowjetischen Grenzen brachte«, zu den dunklen Kapiteln, die das offizielle Moskauer Memorieren ausblenden muss, um zu seinen geschichtspolitischen Volten überhaupt erst kommen zu können: zu einer »falschen Rekonstruktion der Geschichte im Dienst einer endlosen Kriegsvorbereitung«.
Für Koenen war der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt von 1939 »in Wirklichkeit ja ein offensiver Kriegspakt, mit dem der Weltkrieg eröffnet wurde. Er diente unmittelbar der politisch-militärischen Aufteilung des ganzen östlichen Europas, insbesondere durch die Vernichtung Polens, das von beiden Kriegsparteien einer brutalen Okkupation, ethnischen Säuberung und Ausbeutung unterworfen und von der Landkarte gestrichen wurde.«
Nun ist auch richtig, dass die Bewertungen des Stalin-Hitler-Pakts, nicht nur die der geheimen Protokolle und Festlegungen zur Aufteilung von Einflusszonen, sondern gleichermaßen die Frage, welche Rolle er für die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs durch das NS-Regime und den faschistischen Vernichtungskrieg im Osten hatte und wie man heute an ihn erinnert, ebenfalls zu den geschichtspolitisch umkämpften Terrains gehört.
Man denke an die Debatten von 2019, als die Aufmerksamkeit dafür aufgrund eines eigenen Jahrestags größer war. Was die damalige Direktorin des Deutschen Historischen Instituts in Moskau, Sandra Dahlke, dazu sagte, kann man hier lesen. Wie Litauens Ex-Staatschef Vytautas Landsbergis darauf und auf die Aufarbeitung während der Perestrojka und danach zurückblickte, steht hier. Die 2019 von der Historikerin Claudia Weber vorgelegte Studie »Der Pakt« sorgte auch für Diskussionen, von links wurde hier bemängelt, die Vereinbarungen würden »eindeutig antiosteuropäisch und antiwestlich interpretiert und eine pragmatische wie temporäre Interessenannäherung zum ›Pakt‹ aufgewertet«.
War es denn keiner? Die Zwangsdeportationen, groß angelegte Umsiedlungen, Bevölkerungsverschiebungen und brutale Vernichtungsaktionen, die von beiden Seiten unter anderem auf polnischem Gebiet ins Werk gesetzt worden, sind doch keine Interpretationsfragen.
Der Direktor des Museums Berlin-Karlshorst, Jörg Morré, hat anlässlich des Jahrestags des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion im Juni 2021 auf die Rolle der unterschiedlichen Sichtweisen auf den Pakt bei damaligen Diskussionen um das Gedenken hingewiesen. Auch die von Moskau ausgehende Tabuisierung des Themas etwa in der damals noch arbeitenden deutsch-russischen Historikerkommission sprach er an: »In Ostmitteleuropa ist der in den letzten 25 Jahren heftig diskutiert worden. Aus russischer Sicht darf da keinesfalls der Eindruck entstehen, hier hätten zwei Schurken auf Augenhöhe einen niederträchtigen Pakt geschlossen.«
Vergangenes Jahr zeigte das Museum die Ausstellung »Riss durch Europa. Die Folgen des Hitler-Stalin-Paktes«. »Der Eindruck von Totalitarismustheorie schwindet nie ganz aus der Schau«, befand damals die FAZ. »Aber das, was für die kollektive Erinnerung Westeuropas ein Tabu ist, haben sich die Länder Ostmitteleuropas seit der Aufnahme in die Europäische Union 2004 auf die Fahne geschrieben, kämpfend gegen westeuropäische Erinnerungsignoranz, sowohl ›Nie wieder Hitler‹ als auch ›Nie wieder Stalin‹.«
Schon 2019 hatte der Osteuropahistoriker Jan Claas Behrends darauf hingewiesen, dass der Fokus auf Russland, Polen, das Baltikum und den Kriegsbeginn am 1. September 1939 den Blick darauf verstellen würde, »dass auch Länder wie Rumänien, die Ukraine, Weißrussland oder Moldawien bis in die Gegenwart von den Folgen des Hitler-Stalin-Paktes betroffen sind.
Der russische Außenexperte Wladimir Frolow hat den »Pakt mit dem Teufel« und seine Folgen hier ausführlich geschildert – und auch die Aporien angesprochen, die sich ergaben, als osteuropäische und baltische Staaten ihre Sicht in die gemeinsame historische Erinnerung Europas einzubringen suchten und »Forderungen nach der gleichberechtigten Anerkennung der Opfer stalinistischer Gewalt neben denen des Nationalsozialismus und nach einer europäischen Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt (…) dabei gelegentlich als Angriff auf die Singularität des Holocaust missverstanden worden« sind.
Genau so verhielt es sich, als 2008 der 23. August, der Tag der Unterzeichnung des Stalin-Hitler-Paktes, als europaweiter Gedenktag an die Opfer aller totalitären und autoritären Regime ausgerufen wurde – was als falsche Gleichsetzung, Verharmlosung der Naziverbrechen bisweilen kritisiert wurde.
III.
Es gibt noch eine, für die politische Linke besondere Dimension: der Hitler-Stalin-Pakt traf viele linke, demokratische Intellektuelle ins Mark und zerstörte nicht nur Illusionen über die Sowjetunion.
Wie etwa Walter Benjamins Vermächtnis, seine Thesen »Über den Begriff der Geschichte«, mit dem Pakt verbunden sind, hat Michail Ryklin schon vor Jahren in der Zeitschrift »Osteuropa« aufgeschrieben. Auch hier wird auf die Folgen für die Linke hingewiesen: Der Hitler-Stalin-Pakt »bedeutete für die westeuropäische Intelligenz, insbesondere für die Linke, sowie für einen Teil der Arbeiterklasse, dass die wichtigste Achse ihres politischen Koordinatensystems zusammenbrach. Mit dem Pakt verloren all jene ihre Orientierung, die bis dato die Oktoberrevolution als eine weltgeschichtliche Zäsur betrachtet hatten; die in der Sowjetunion eine Gesellschaft neuen Typs gesehen hatten, die die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beendet habe; all jene, die wie André Gide die UdSSR als ihre ›Wahlheimat‹ betrachteten. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt gaben viele ihre Parteibücher zurück oder verbrannten sie.«
Heinrich Mann notierte am 19. September 1939, zwei Tage nachdem sowjetische Truppen dem von Nazideutschland angegriffenen Polen in den Rücken fielen, in sein Tagebuch, dass ihn die Nachricht vom Hitler-Stalin-Pakt »betroffen und ratlos« gemacht habe, das Land, von dem er »Humanisierung« erhoffte, hatte sich mit dem »wirrsten der bisherigen Welteroberer, einem Menschen ohne Gewissen« verbündet. Nachdem das stalinistische Regime Ende November 1939 auch noch Finnland überfällt, das sich Moskau im geheimen Zusatzprotokoll ebenfalls als Beute gesichert hatte, schreibt Mann: »Leider hat nunmehr die Sowjetunion den sittlichen Grund, auf dem sie besteht, selbst angetastet«, die »Sowjet-Imperialisten« und Hitler hätten »sich gefunden gegen die zivilisierte Welt«.
Oder Willi Münzenberg.
Der Verleger, Filmproduzent und Organisator, der »Propaganda-Chef der Kommunistischen Internationale für die westliche Welt«, hatte ab Mitte der 1930er Jahre aufgrund der Gräueltaten im »Großer Terror« und der zunehmenden Stalinisierung der KPD Zug und Zug mit dem autoritären Parteikommunismus gebrochen. Wegen seiner Kritik an den »Säuberungsaktionen« hatten gewissenlose KPD-Satrapen wie Pieck und Ulbricht gegen ihn in Moskau intrigiert, im März 1939 kam Münzenberg seinem Ausschluss aus der Partei durch Austritt zuvor.
Schon seit 1938 hatte er im Pariser Exil »Die Zukunft« herausgegeben, eine Emigrantenzeitschrift, die als Organ der Union franco-allemande fungierte. Die Union, letztes wichtiges Verständigungsnetzwerk antifaschistisch-demokratischer Kräfte der Zwischenkriegszeit, verurteilte schon in der ersten Ausgabe von »Die Zukunft« nach dem Pakt »den Verrat« Moskaus an jener »in der Bildung begriffene(n) Front des Friedens«. Diese hätte nach Überzeugung der Unterzeichnerinnen »nicht nur ein Mittel zur Sicherung des Friedens, sondern auch die Keimzelle eines künftigen Europa« sein können.
Neben Münzenberg hatten unter anderem die Schriftstellerin und Friedensaktivistin Annette Kolb, der jüdisch-sozialistische Publizist und Historiker Max Beer und die USPD-Mitglieder Alfred Döblin und Hugo Simon unterzeichnet – letzterer war kurzzeitig Finanzminister im preußischen Rat der Volksbeauftragten nach der Novemberrevolution, was Döblin in seinem Roman »November 1918« verarbeitete.
Münzenberg legte in der »Zukunft« kurz nach dem Überfall Moskaus auf Polen am 22. September 1939 mit einer fulminanten Kritik des Pakts nach, die mit den berühmt gewordenen Worten endet: »Der Verräter, Stalin, bist Du.«
Der Nichtangriffspakt, »das Abkommen Moskau-Tokio und schließlich der feige Überfall auf das geschwächte Polen, lassen keinen Zweifel mehr darüber zu, was in Russland in den letzten Jahren vorgegangen ist« – »mit der demokratischen Friedenspolitik eines sozialistischen Staates hat diese imperialistische Gewaltmethode nichts zu tun.«
Versuchen, den Pakt als taktische Notwendigkeit zum Selbstschutz hinzustellen, begegnete Münzenberg damals schon: »Nichts entschuldigt und rechtfertigt den Gewaltstreich eines Staates, der bisher als Verteidiger der Unabhängigkeit kleiner Nationen auftrat, der sich bis heute einen sozialistischen Staat nennt und auf dessen Wappen die Worte leuchten: ›Proletarier aller Länder vereinigt Euch!‹«
Es bleibe »die schwere, untilgbare Schuld der Stalin-Regierung«, dem »Hitlersystem durch den Hitler-Stalin-Pakt erst den Weg zu dem verbrecherischen Krieg gegen Polen frei gemacht und damit den neuen Weltkrieg ausgelöst zu haben«. Die »Prinzipien der kollektiven Sicherheit und die nur als Tarnung mühselig mitgeschleppten sozialistischen und internationalistischen Doktrinen sind in Stalin-Russland ein für alle Mal tot und begraben. Das russische Volk mag dem leichten Ländergewinn zujubeln. Es ist kein sozialistisches Russland mehr, sondern ein Russland, das seine imperialistischen Machtansprüche mit Feuer und Schwert angemeldet hat«, so Münzenberg.
Er zitiert dann noch einmal, was die von Münzenberg 1939 gegründete Partei »Freunde der sozialistischen Einheit« zuvor schon in der »Zukunft« formuliert hatte: »Der Pakt ist objektiv gegen die Völker des Westens gerichtet, deren Länder den historischen Boden der europäischen Demokratien darstellen.« Heute, setzt er fort, »sind die Feinde der Freiheit und des Friedens klar erkenntlich, scharf, wie im Scheinwerferlicht. Niemand kann sich mehr täuschen. Allzu lange wurden Millionen getäuscht und darunter nicht die schlechtesten, jedenfalls die opferwilligsten.« Frieden und Freiheit müssten »verteidigt werden gegen Hitler und gegen Stalin«.
Nicht einmal ein Jahr später war Münzenberg tot. Seine Biografie versperrt sich den allermeisten Schubladen. Seine zeitgenössische Sicht auf den Stalin-Hitler-Pakt (von den Geheimprotokollen wusste man damals nicht) steht für eine ebenso befreiende wie schmerzhafte Ent-Täuschung, was den politischen Charakter der Führung in der Sowjetunion angeht. Wie in Heinrich Manns Hinweis auf »den sittlichen Grund« konnte für ihn keine noch so mit angeblichen »Notwendigkeiten« verkleidete Begründung aus der Welt schaffen, dass hier jemand mit jenen Mitteln vorging, denen sich der demokratische europäische Antifaschismus entgegenzuwerfen versuchte.
Diese Tatsache tilgt nicht den hervorgehobenen Beitrag, den die Menschen aus den Sowjetrepubliken später im militärischen Kampf gegen das faschistische Deutschland leisteten. Und auch nicht die besonders hohen Opfer, die sie aufgrund des von Deutschland ausgehendes Weltenbrandes erlitten.
Es lässt sich das, was mit dem Stalin-Hitler-Pakt verbunden ist, aus dem Erinnern aber auch nicht durch Verschweigen tilgen. Ebenso wenig, wie man die anders gelagerten Erinnerungen in Osteuropa und im Baltikum dadurch zum Verschwinden bringen könnte, dass man sich ihnen mit dem Hinweis auf den letztendlichen Sieg gegen Hitlerdeutschland verweigert. Zumal schon das wichtige Differenzen unterschlägt, weil es eben viele, sehr viele Gründe gibt, dass die Ukrainerinnen dazu heute anders stehen als Russen. Und ja, dass in Osteuropa und im Baltikum das, was hierzulande als Befreiung erst verstanden werden musste, nicht als solche erinnert wird, müssten vor allem Linke mit der selbstkritischen Bereitschaft zur Kenntnis nehmen, dass dies auch etwas mit der Tradition zu tun hat, in die man selbst gestellt ist, der man nicht weglaufen kann.
Es wird kein »richtiges Gedenken« an den Gräbern der Befreier geben können, das sich der einen oder anderen Perspektive verweigert. Schon gar nicht, wenn dies zu Zwecken geschieht, die der Erinnerung so offensichtlich instrumentell zugetan sind: Will denn wirklich auf Erinnerung hinaus, wer die Ausladung von offiziellen Vertretern des Putin-Regimes an Feierlichkeiten kritisiert hat? Und wer glaubt schon, dass sich heute Politiker in russländischen Botschaften bei Feierlichkeiten ablichten lassen, weil es ihnen wirklich um irgendein Gedenken geht?